Migration Spanien verliert seine Kinder

Spanien erlebt die schärfsten Sparmaßnahmen seiner Geschichte. Die Wirtschaft liegt brach, eine ganze Generation sucht das Glück im Ausland.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
In Madrid protestieren Demonstranten im Juli 2012 gegen die Sparmaßnahmen der spanischen Regierung. Quelle: REUTERS

Das Steuerrecht kennt César Martínez aus dem Effeff. Martínez hat die Wirkungen von kommunalen Gebühren untersucht, ihre Folgen für die Bürger und für die Rechtsordnung. Die Forschungsaufenthalte in Amsterdam, Münster und Köln haben seinen Blick auf das Fach geschärft. An der Autonomen Universität Madrid hat Martínez als wissenschaftlicher Mitarbeiter nun alles festgezurrt und zu einer juristischen Doktorarbeit niedergeschrieben. Bald gibt der 29-Jährige ab. Kurz danach läuft sein Arbeitsvertrag aus.

"Bis jetzt hat mir keiner meiner Vorgesetzten gesagt, wie es weiter geht", sagt Martínez. "Am wahrscheinlichsten ist, dass ich arbeitslos werde". Er senkt seine Stimme und atmet tief durch.

Krise und Arbeitslosigkeit in Spanien

Seinem Kollegen Javier Frutos, geht es wenig besser. Doch er nimmt es mit Humor. Eigentlich wollte der Bücherwurm Frutos ja nur Bücher lesen, als er sich um eine Diplomatenkarriere im spanischen Außenministerium bemühte. "Don De Lillo, Thomas Pynchon", Frutos lacht als er die Liste seiner Lieblingsautoren runterbetet. Doch von einem Tag auf den anderen strich das Außenministerium ungefähr die Hälfte der knapp 30 ausgeschriebenen Stellen. Frutos dachte sich: Na gut, dann gehe ich halt an die Uni. Er machte ein Master und begann seine Doktorarbeit in EU-Recht.

Einen Doktortitel, aber keine Arbeit

Früher war es für Überflieger wie Frutos und Martínez eine recht einfache Entscheidung. Mit einem guten Zeugnis zum Doppelabschluss in Jura und Politik hätten sie an der Uni weiterarbeiten können. Doch heute sparen die Universitäten in Madrid an allen Ecken – am Papier, am Strom, an der Heizung. Bald werden Frutos und Martínez einem Doktortitel in der Tasche haben, doch keine Arbeit.

Der Jurist César Martínez:

"Ich glaube, ich werde nach Deutschland gehen", sagt César Martínez. Die Zeit ist gekommen, um dem Land in dem er geboren ist, den Rücken zu kehren.
Spanien kann seinen Kindern nicht mehr viel bieten. Keine Generation von Spaniern hat so viel von dem Wohlstand des Landes profitiert.

Dieser Wohlstand hat nicht nur eine enorme Immobilienblase hervorgebracht, sondern auch eine gut ausgebildete Jugend. Frutos und Martínez sind typische Repräsentanten dieser Jugend. Nach Angaben der OECD haben 38 Prozent der spanischen Bevölkerung einen Hochschulabschluss. Mit dieser Quote liegt Spanien oberhalb des OECD-Durchschnitts. Zum Vergleich: Nur 26 Prozent der Deutschen haben eine Hochschule besucht.

"Überall das selbe Thema: Bleiben oder gehen?"

Spaniens Baustellen
Spanien hat wie die anderen südeuropäischen Euro-Länder von den niedrigen Zinsen in der Währungsunion profitiert und einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Ähnlich wie in Irland bildete sich eine Immobilienblase, die mit einem lauten Knall platzte: Der Bausektor fiel in sich zusammen, die Arbeitslosigkeit stieg rasant. Quelle: REUTERS
Seit 2008 stieg die Arbeitslosenquote von knapp über zehn auf fast 25 Prozent. Bei den Jugendlichen ist fast jeder Zweite arbeitslos. Hatten bislang vor allem ungelernte Arbeitskräfte in der Bauwirtschaft und im Servicebereich ihren Job verloren, trifft es jetzt auch qualifizierte Kräfte. Nach einem schwachen Wachstum in der ersten Jahreshälfte 2011 befindet sich Spaniens Wirtschaft jetzt wieder in der Rezession. In diesem Jahr wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,7 Prozent schrumpfen. Quelle: dpa
Das Hauptproblem: Fortbildungsprogramme und Arbeitsvermittlung wurden bislang vernachlässigt, Teilzeitverträge existierten bislang fast gar nicht. Auf Seiten der Arbeitnehmer haben sich zu viele Angestellte in komfortablen Bedingungen eingenistet. Flexibilität und Mobilität bei Stellensuchenden sind so gut wie gar nicht ausgeprägt. Quelle: REUTERS
Ausgerechnet die Hochqualifizierten bewegen sich nun – mit fatalen Folgen für Spanien. Weil Jobs und Perspektiven für Akademiker fehlen, schauen sich junge Iberer zunehmend im Ausland nach Jobs um. In Deutschland könnte sie fündig werden. Die Bundesregierung warb im vergangenen Herbst um spanische Ingenieure. Mit Erfolg. Bis zum Jahresende 2011 bewarben sich mehr als 14.000 junge Iberer um einen Job zwischen Hamburg und München. Spanien droht nun der „brain drain“. Quelle: dpa
Ein weiteres Problem: Spaniens Regierungschef legt ein hohes Reformtempo vor – doch die Kommunal- und Regionalregierungen zeigen keinerlei Sparbereitschaft. Während die Zentraladministration seit 2001 ihr Personal um 22 Prozent reduziert habe, sei die Belegschaft der autonomen Gemeinschaften um 44 Prozent und die der Gemeinden um 39 Prozent gestiegen, rechnete Antonio Beteta vor, der Staatssekretär für öffentliche Verwaltungen. Quelle: REUTERS
Höhere Sozialausgaben und sinkende Steuereinnahmen aufgrund der Rezession und der Abwanderung von Hochqualifizierende führen zwangsläufig zu einem Anstieg der Verschuldung. Die Gesamtverschuldung liegt derzeit mit knapp 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zwar unter dem Schnitt der Eurozone, aber diese Zahl dürfte bis 2014 rasant wachsen. Die Ratingagentur Moody’s geht davon aus, dass die Verschuldung bis Jahresende bei rund 80 Prozent des BIPs liegen wird. Quelle: dpa
Auch die Finanzmärkte sind skeptisch. Zwar haben die großzügigen Geldausleihen der Europäischen Zentralbank (EZB), bei der sich vor allem südeuropäische Banken mit Liquidität versorgt haben, auch die Renditen spanischer Staatsanleihen auf ein erträgliches Niveau gedrückt. Doch die Anleger verlangten von Spanien zuletzt wieder höhere Renditen als für Italien – ein deutliches Zeichen des Misstrauens. Quelle: REUTERS

Und doch liegt das Talent der spanischen Jugend brach. Ende des Jahres 2011 befanden sich laut dem europäischen Statistikamt Eurostat knapp 49 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit. Am meisten betroffen sind nach einer Studie der spanischen Bank BBVA Personen ohne Hochschulabschluss. Doch auch knapp 30 Prozent der spanischen Jungakademiker hat derzeit kaum eine Chance, eine Arbeit zu finden.

So könnte das Banken-Rettungspaket aussehen

Die Folge: Die Menschen überlegen zunehmend, ob sie das Land verlassen sollen. Das spanische Statistikamt hat dazu jüngst Zahlen veröffentlicht. Demnach haben in den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 etwa 40.000 Spanier das Land verlassen, ungefähr 44 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Vorbei sind die Zeiten, als Spanien Saisonarbeiter aus Marokko und Südamerika anzog. Das Einwanderungsland Spanien wandelt sich zum Auswanderungsland.

BWLer Jorge Ramón Muñoz:

Die Generation von Spaniern, die das Land verlässt, ist wissbegierig, gut ausgebildet und hat Erfahrung im Ausland gesammelt. Personen wie Jorge Ramón Muñoz zum Beispiel. Muñoz ist 24 Jahre jung, er hält ein Doppelabschluss Informatik und BWL in der Hand. Sein BWL-Studium schloss er im Juni an der Uni in Kopenhagen ab. "Als ich zurückkehrte, war die Stimmung unter meinen Freunden sehr bedrückt", erzählte er, "überall sprechen sie nur noch von einem Thema: Soll ich bleiben oder gehen?"

Für Muñoz ist die Sache klar: "Ich werde im Ausland nach einer Arbeit suchen. USA, Skandinavien, Asien egal. Hauptsache ich werde gut bezahlt und finde einen Job, der meiner Qualifikation entspricht". Jemand wie Muñoz dürfte die Qual der Wahl haben. Die Sommer verbrachte er nicht am Strand sondern an Sommeruniversitäten in England und den USA. "Er ist ein brillanter Student", sagt einer, der ihn aus nächster Nähe kennt.

Ist das langfristig nicht eine Gefahr für Spanien, wenn Leute wie Muñoz das Land verlassen? Verliert das Land nicht die Leute, die es zur Entwicklung von Wirtschaft und Industrie dringend bräuchte?

Ausgaben für Forschung um 25 Prozent gekürzt

"Nicht unbedingt" erwidert Albert Sabater vom katalonischen Forschungszentrum an der Autonomen Universität Barcelona CED. "Wir befinden uns gerade am Anfang dieser Migrationswelle und wir wissen nicht, ob die Ausgewanderten nach einiger Zeit wiederkehren werden." Sabater ist skeptisch, er möchte nicht automatisch von einer Intelligenz-Abwanderung sprechen. "Es ist gut möglich, dass es sich um eine zirkuläre Migration handelt – Menschen gehen und kehren nach einer gewissen Zeit wieder". Außerdem: "Nicht alle Personen, die das Land verlassen, sind mit einem Hochschulabschluss gesegnet". Davon gibt es in Spanien auch reichlich. Die Quote derjenigen, die kein Hochschule besuchen oder frühzeitig die Schule abbrechen liegt bei 30 Prozent.

Wer sich um das heimische Wissenschaftspotenzial Sorgen mache, so Sabater, der soll lieber dafür sorgen, dass die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung langfristig wieder fließen. Diese hatte die Regierung in Madrid für 2012 im Vergleich zu 2011 bereits um 25 Prozent gestrichen. Für das kommende Jahr werden die Forscher weitere 15 Prozent der Gelder an den Sparmaßnahmen verlieren. "Ich würde zurzeit nicht nach Spanien gehen", sagte die Pharmakologin Nadezda Apostolova jüngst der Tageszeitung "El Pais". Apostolova kam vor zehn Jahren aus Mazedonien mit einem Stipendium zum Studieren nach Spanien.

Immer mehr Spanier lernen Deutsch

Nun verzichten viele auf die iberische Küche und die langen Madrider Nächte. Das Goethe-Institut in der spanischen Hauptstadt bekommt das direkt zu spüren. Seit 2010 ist die Zahl der Einschreibungen um 35 Prozent gestiegen, wie die Spracheinrichtung neulich verkündete. Zehn neue Deutschlehrer sind im vergangenen Jahr zum Institut gestoßen, das nun auch Kurse wie "Deutsch im Beruf" und "Meine Bewerbung für Deutschland" anbietet. Auch in Deutschland hat sich das gestiegene Interesse nach der deutschen Sprache bemerkbar gemacht. So haben die Carl Duisberg Centren (CDC) in ihren Sprachschulen in Berlin, Köln, München und Radolfzell am Bodensee seit Mitte letzten Jahres eine erhöhte Zahl von Teilnehmern aus Spanien registriert. Die Steigerung belaufe sich in diesem Zeitraum auf fast 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie ein Sprecher der CDC mitteilt.

Verständigungsprobleme wird der Jurist Martínez nicht haben. Auf seinen Forschungsaufenthalten in Deutschland hat er die Sprache gelernt. Und er hat Glück: seine Freundin ist eine Ingenieurin, die sich durchaus vorstellen könnte Deutschland zu ziehen. Wäre das Land in Zentraleuropa auch ein Ort für den Überflieger Muñoz? Das Land fällt nicht in seine engere Auswahl. Aber: "Wenn ich eine Bewerbung an BMW oder Audi schicke und die antworten, dann schaue ich mir das natürlich an".

Andere Akademiker in Spanien hatten nicht viel Zeit zu grübeln. Sie waren die ersten, die in der Krise ihre Jobs verloren haben. Und sie sind die Opfer des eigenen Erfolgs geworden: Nach den Zeiten der wilden Immobilienspekulation und dem Betonburgenboom, die jetzt zu Geistersiedlungen verkommen sind, sind Bauingenieure und Architekten in Spanien zurzeit überhaupt nicht mehr gefragt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%