Renzi rennt. Seit Anfang Dezember fegt der Mann, der den Bann der italienischen Bewegungslosigkeit brechen will, durch die versteinerte Politik seines krisengelähmten Landes. Dabei warf er nun in vier Tagen seine eigenen Überzeugungen über den Haufen. Am Montag wies er einen Wechsel an die Regierung noch weit von sich: „Warum sollte ich mir das antun?“, fragte Matteo Renzi. Heute nun drängt der 39-jährige PD-Chef den Ministerpräsidenten Enrico Letta nach knapp 300 Tagen aus dem Amt. Es ist eine waghalsige Flucht nach vorn.
Zwei Monate nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der sozialdemokratischen Regierungspartei PD hat Renzi den Machtkampf mit seinem internen Rivalen für sich entschieden. Im Hauruckverfahren servierte der Führungsausschuss der Partei am Donnerstag Letta ab. Vor den Augen eines fassungslosen Landes ereignete sich im Livestreaming, was bis Anfang der Woche niemand für möglich gehalten hat: Der Bürgermeister von Florenz, den sie in Italien „den Verschrotter“ nennen, schwingt sich zum jüngsten Regierungschef der Geschichte Italiens auf. Seine Parole lautet: „Raus aus dem Sumpf“.
Renzi setzt alles auf eine Karte. Er möchte Italien von dem Fluch befreien, der das Land daran hindert, seine Probleme anzupacken. Seit Jahrzehnten. Renzi eröffnet damit eine Partie, in der es um alles oder nichts geht. Er braucht dazu verdammt viel Mut. Wer das verknöcherte System Italiens aus den Angeln heben will, weiß, dass er alle seine Nutznießer gegen sich hat. Das Vorhaben ist so riskant, dass man die Übernahme der Regierungsverantwortung kaum persönlichen Machtambitionen zuschreiben kann. Sie sieht mehr nach einem Akt der Verzweiflung aus.
Die Eskalation war durchaus vorgezeichnet. Schon Anfang Dezember, als Renzi sich in einer Urwahl um den PD-Vorsitz bewarb, hielt er mit seinem Ungestüm nicht hinter dem Berg. Wenn die Parteibasis ihn rufe, werde er nicht brav bleiben. Renzi, der Mann, von dem seine Freunde sagen, er könne keinen Gang zurückschalten, warnte Letta und seine Regierung unverblümt: „Wenn die nicht machen, was wir verlangen, ist finish“. Dann beriefen ihn am 8. Dezember zwei Millionen PD-Sympathisanten zum neuen Parteichef. Renzi wusste, dass viele es nur taten, weil sie keinen anderen Ausweg für ihr niedergeschlagenes, ausgezehrtes Land sehen. Man hatte in der Krise vieles versucht, nichts hatte geholfen. So gab man dem Draufgänger aus Florenz die letzte Chance.
Wie ein Wirbelsturm über Italien
Renzi kam wie ein Wirbelsturm über das blockierte Land. Er hat sich vorgenommen, Italien zu ändern, bevor es zu spät ist. Das bruchstückhafte, hinhaltende Regierungshandeln wollte er nicht länger hinnehmen. Auftrieb gab ihm im Januar die Vorlage einer Wahlrechtsreform, auf die Italien seit zwanzig Jahren wartet. Ausgehandelt hat er den Entwurf mit dem Erzfeind seiner Partei, mit Oppositionsführer Silvio Berlusconi. Das neue Modell, das nun vom Parlament verabschiedet werden muss, soll den unklaren Mehrheitsverhältnissen und handlungsunfähigen Regierungen in Rom ein Ende bereiten. Zu dem Reformpaket gehört auch die Abschaffung des Senats als eine von zwei völlig gleichberechtigten Parlamentskammern. Sie verspricht den Abschied von einem System, das das Regieren so unerträglich schwerfällig gemacht hat. Drittens verständigten sich Renzi und Berlusconi auf eine Verfassungsänderung, die eine föderale Reform rückgängig machen soll.
Wissenswertes über Italien
Das Klima und die mediterrane Küche sind wohl ausschlaggebend für die hohe Lebenserwartung der Italiener. In Europa führen sie die Liste aller OECD-Staaten an, weltweit belegen sie den zweiten Platz. Die Lebenserwartung beträgt bei Frauen circa 83 Jahre, bei Männern 78 Jahre. Ungefähr 19 Prozent der Italiener sind älter als 65 Jahre.
Dennoch ist auch im Stiefelstaat der Trend zum Übergewicht festzustellen. Italien hat der adipösen Gesellschaft den Kampf angesagt und so gibt es in Italien einige Krankenhäuser, die sich ausschließlich um fettleibige Patienten kümmern.
Der Süßwarenfabrikant Michele Ferrero ist der reichste Mann Italiens. Sein Vermögen wird auf 17 Milliarden Dollar geschätzt. Leonardo Del Vecchio, Gründer von Luxottica, folgt auf Rang zwei.
Die italienische Landwirtschaft spielt insgesamt keine große Rolle. In zwei Bereichen sind die Italiener dennoch Weltspitze: So produzierte das Land 2010 rund 44,8 Millionen Hektoliter Wein. Nur Frankreich stellt mehr Wein her. Außerdem ist Italien, nach Spanien, der zweitgrößte Erzeuger von Olivenöl.
Italiens Handelspartner befinden sich in direkter Nähe zu dem Land. Deutschland ist der wichtigste Partner, gefolgt von Frankreich. Italiens Produkte erfreuen sich besonders in Großbritannien, Spanien und den USA großer Beliebtheit. Importiert wird aus den Niederlanden, China, Libyen und Russland.
Eindeutig Brillen herstellen! Denn Luxottica, mit Sitz in Agordo (Provinz Belluno) ist der weltgrößte Brillenhersteller. Seit 1995 kauft das italienische Unternehmen US-Marken wie Ray-Ban und Oakley auf.
Mailand, Turin und Genua sind die größten Wirtschaftszentren Italiens. Sie sind Teil des europäischen Wirtschaftsraumes, der durch neun Länder führt und "Blaue Banane" heißt. Zentrale Einrichtungen der Europäischen Union und 20 Weltstädte befinden sich in der Zone. Hier sind die Bevölkerung, die Wirtschaft, das Kapital und die Infrastruktur sehr gut verwoben und bilden somit eine wirtschaftliche Achse Europas. Vergleichbar ist dieser Wirtschaftsraum mit BosWash in den USA.
Kuriose Gesetze sind in Italien keine Seltenheit. So müssen Hunde dreimal täglich Gassi gehen. Die Polizei darf sich bei den Nachbarn auch erkundigen, ob dies eingehalten wird. Hohe Geldstrafen sind ausgesetzt, wer sich nicht an die Gesetze halten will. Wer sich in der Lombardei abends auf einer Bank ausruhen will, muss sich vergewissern, dass nicht mehr als drei Personen Platz nehmen. Denn in einem öffentlichen Park ist dies streng reglementiert.
Italien ist das Land mit den meisten Welterbestätten. Italien ist in Besitz von 100.000 Denkmälern. Darunter befinden sich nicht nur Kirchen, Galerien und Schlösser. Auch archäologische Funde, Brunnen und Villen fallen unter den Denkmalschutz.
Die verkorkste Kompetenzaufteilung zwischen dem Zentralstaat und den Regionen erwies sich durch die Lähmung des bürokratischen Entscheidungsprozesses zum kostspieligen Hemmschuh der wirtschaftlichen Entwicklung Italiens. Das Großprojekt löst Italiens Probleme nicht, aber es würde das Land einen gewaltigen Schritt voranbringen. Und es zeigt, dass es nicht zum Stillstand verurteilt ist. Renzi bewies, dass der Bann, der das Land gefangen hält, zu brechen ist.
So schwoll der Druck für einen Wechsel im Regierungsamt von Tag zu Tag an. Aus den Koalitionsparteien und aus dem Land. Der Chef des Industriellenverbandes Giorgio Squinzi forderte ultimativ: „Entweder die Regierung legt einen anderen Gang ein, oder es ist besser wählen zu gehen“. Die Chefin des größten italienischen Gewerkschaftsverbandes CGIL, Susanna Camusso, drängte auf eine Ablösung von Letta: „Wenn die Regierung so weitermacht, geht sie besser nach Hause“. Die Finanzmärkte begleiteten den Showdown in Rom mit Gelassenheit. Die Anleger rissen dem italienischen Staat an den beiden vergangenen Tagen Anleihen im Wert von 14 Milliarden Euro zu sinkenden Zinsen aus der Hand. Die Mailänder Börse quittierte den sich anbahnenden Regierungssturz mit Kursgewinnen. Offenbar hofft man auf eine wirkungsvollere Reformpolitik aus Rom.
Für Heißsporn Renzi kommt jetzt der schwierigste Teil seiner riskanten Operation. Er muss Tabula rasa machen und das mit dem alten Koalitionspersonal, das Letta in den vergangenen zehn Monaten die Hände gefesselt hat.