Nach dem Brexit-Votum Europa droht der schleichende Zerfall

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Warum die Europäer zu weniger Europa kaum in der Lage sind

Der Grund dafür ist einfach. Die Europäer sind zu unterschiedlich, zu zerstritten. Eine politische Union würde Deutschland wohl nur dann mittragen, wenn deutsche Regeln gelten. Josef Janning vom „European Council on Foreign Relations“ fordert ehrliche Ansagen. „Wenn Neapel regiert würde wie Malmö, wären wir alle besser dran. Das ist die deutsche Haltung, also sollten wir sie auch äußern“, fordert Janning.

Doch eine ernsthafte Debatte, ob und wie die Europäer enger zusammenrücken können, findet statt. Was also dann? Weniger Europa? Janning glaubt zwar, dass so manche Subvention, die aus Brüssel kommt überprüft werden kann. „Muss die EU wirklich Gelder bereitstellen, um Windmühlen in Friesland zu erhalten?“ Das Problem: Eine Förderung, die abgeschafft wird, produziert Verlierer. „Jeder will nur das zurückfahren, was einem selbst nichts bringt“, sagt Janning.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Europa könnte nun dennoch in eine Phase der Rückabwicklung eintreten. Das Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada, kurz CETA, könnte ein erstes Indiz dafür sein. Handelspolitik gehören laut EU-Vertrag in das Aufgabengebiet Brüssels. Kurzum: Die EU-Kommission hat CETA verhandelt, das Parlament nickt es ab oder stoppt es.

Nun soll dieses Prinzip umgegangen werden, indem alle 28 Mitgliedsstaaten darüber abstimmen. „Europa droht ein schleichender Zerfall“, sagt Politikwissenschaftler Dietmar Herz. „Wenn die Mitgliedstaaten Kompetenzen beanspruchen, die ihnen eigentlich nicht mehr zustehen – wozu braucht man dann noch Brüssel?" Diese Frage dürfte künftig immer stärker diskutiert werden.

Werner Weidenfeld vom Centrum für angewandte Politikforschung in München hält die Frage nach mehr oder weniger Europa für sinnlos. „Wir brauchen ein handlungsfähiges Europa“, sagt Weidenfeld. Er warnt vor jahrelanger Lethargie durch einen möglichen Brexit. „Die Politik muss sofort an die Sinnfrage ran“, fordert Weidenfeld – „unabhängig davon, ob die Briten gehen oder nicht“.

Diese Sinnfrage tauchte schon in der Vergangenheit auf. Die sogenannte Eurosklerose in den 1970er und 1980er Jahren konnte letztlich überwunden werden. Damals hatten die Briten ebenfalls abgestimmt, ob sie Teil der europäischen Gemeinschaft bleiben wollen. Zwei Drittel waren damals dafür, die Europäer blieben zusammen und ließen die Krise gemeinsam hinter sich. Diesmal ist alles anders: Großbritannien will gehen und die Europäer müssen ihre Sinnkrise alleine lösen.

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