Nach dem umstrittenen Sieg von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beim Verfassungsreferendum in der Türkei hat die Regierung eine erneute Verlängerung des Ausnahmezustands beschlossen. Vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments soll der Ausnahmezustand nun mindestens drei weitere Monate in Kraft bleiben, wie Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus sagte. Am Montagabend waren in Ankara jeweils unter Erdogans Vorsitz zunächst der Nationale Sicherheitsrat und dann das Kabinett zusammengekommen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gab der Rat zur Begründung an, der Ausnahmezustand diene „dem Schutz unserer Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Rechte und Freiheiten unserer Bürger“.
Formell muss nun noch das Parlament der umstrittenen Maßnahme zustimmen, das an diesem Dienstag erstmals seit dem Referendum zusammenkommt. Eine Zustimmung gilt als sicher, da Erdogans islamisch-konservative Partei AKP über eine absolute Mehrheit verfügt. Der Ausnahmezustand gilt vorbehaltlich dieses Votums mindestens bis zum 19. Juli. Erdogan hatte den Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im Juli ausgerufen. Er wurde seitdem zwei Mal verlängert und wäre in der Nacht zu Mittwoch ausgelaufen. Er ermöglicht Erdogan, mit Dekreten zu regieren, die auch ohne Zustimmung des Parlaments in Kraft treten.
Kritik kam aus der Opposition. Der Abgeordnete Baris Yarkadas von der größten Oppositionspartei CHP warf der Regierung vor: „Sie können dieses Land nicht ohne Ausnahmezustand regieren. Sie sind eine Regierung geworden, die abhängig ist vom Ausnahmezustand.“ Die Opposition hatte Einschränkungen ihres Wahlkampfs vor dem Referendum wegen des Ausnahmezustands beklagt, der unter anderem die Versammlungsfreiheit einschränkt. Auch die internationalen Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates hatten kritisiert, unter dem Ausnahmezustand seien Grundfreiheiten eingeschränkt gewesen, „die für einen demokratischen Prozess wesentlich sind“.
Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die EU und die Nato?
Nein, nicht automatisch. Denkbar ist zwar, dass das EU-Parlament mit einer Resolution den Abbruch der Gespräche fordert. Die zuständigen Regierungen der EU-Staaten müssen Forderungen des EU-Parlaments im Bereich der Außenpolitik allerdings nicht nachkommen.
Wenn sich alle 28 Mitgliedstaaten einig wären, wäre ein Abbruch möglich. Die EU-Kommission und auch die Bundesregierung waren bis zuletzt aber der Meinung, dass ein kompletter Wegfall der EU-Beitrittsperspektive dazu führen könnte, dass sich die Türkei noch stärker Russland zuwendet und keinerlei Bestrebungen mehr zeigt, sich bei Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an europäische Standards zu halten. Derzeit gibt es deswegen für die Beitrittsverhandlungen nur eine einziges K.o.-Kriterium: die von Erdogan erwogene Wiedereinführung der Todesstrafe.
Alternative zum vollständigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre es, die Gespräche offiziell auszusetzen. Dafür bräuchte es keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Es würde ausreichen, wenn 16 der insgesamt 28 Länder zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten.
Zumindest am Rande. Die Türkei ist immer noch einer der wichtigsten Partner in dem Bereich - auch wenn nach Meinung vieler Experten vor allem die Grenzschließungen auf der Balkanroute zu dem Ende des großen Flüchtlingszustroms in Richtung Westeuropa geführt hat. Die Türkei beherbergt derzeit rund drei Millionen Menschen aus Ländern wie Syrien oder dem Irak.
Die EU könnte die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei weiter zurückfahren oder verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen, die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken. Dabei geht es um rund 4,45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020.
In Brüssel wird das nicht für unmöglich gehalten. Die wüsten Beschimpfungen Erdogans gegen EU-Staaten könnten als unschönes Wahlkampfgepolter abgehakt werden. Wirklich bessere Beziehungen sind aber nur dann möglich, wenn die Türkei wieder anders mit Oppositionspolitikern und Journalisten umgeht. Das Vorgehen in den vergangenen Monaten wird als absolut inakzeptabel erachtet.
Die letzten Äußerungen waren widersprüchlich. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte Ende der vergangenen Woche an, er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu beleben. In der EU wird mit Spannung erwartet, ob dies bedeutet, dass die Türkei doch bereit ist, über eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken, die nach Meinung von EU-Juristen zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden können. Die EU hat eine Änderung der Anti-Terrorgesetze zu einer Bedingung für die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger gemacht.
Auf der anderen Seite sagte Präsident Erdogan, er wolle die künftigen Beziehungen der Türkei zu Europa nach dem Referendum überprüfen lassen. Unklar ist, ob er damit eine Volksabstimmung nach britischem Vorbild meint, bei der die Bürger der Türkei über eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit der EU abstimmen könnten.
Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt. Das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost hat von den Mitgliedstaaten die zweitgrößte Armee, von Incirlik aus fliegen Alliierte Angriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), und im Südosten des Landes steht ein wichtiges Nato-Raketenabwehrradar. Wenn das „Ja“ beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nutzen - aber nur dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Die jüngsten Entwicklungen wurden mit großer Sorge gesehen. Für Nato-Partner stellt sich die Frage, ob eine Demokratie à la Erdogan auf Dauer stabil sein kann.
Das in einem Referendum angenommene neue Präsidialsystems verleiht dem Staatsoberhaupt deutlich mehr Macht. Die Opposition, die eine Ein-Mann-Herrschaft befürchtet, forderte wegen Unregelmäßigkeiten eine Annullierung der Abstimmung vom Sonntag. Erdogan und die türkische Regierung wiesen jede Kritik an der Wahl zurück.
Am Montagabend gingen in Istanbul Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Erdogan zu demonstrieren. Allein im Stadtteil Besiktas im Zentrum der Millionenmetropole versammelten sich rund 2000 Demonstranten, wie eine dpa-Reporterin berichtete. Sie skandierten unter anderem „Dieb, Mörder, Erdogan“. Anwohner schlugen als Zeichen des Protestes auf Töpfe. Im Istanbuler Viertel Kadiköy auf der asiatischen Seite versammelten sich nach Angaben von Augenzeugen ebenfalls mehrere Tausend Demonstranten. Auch in der Hauptstadt Ankara und der westtürkischen Stadt Izmir hatten Regierungskritiker zu Protesten aufgerufen.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
Erdogan verspottete die Demonstranten in einer Ansprache vor dem Präsidentenpalast. In Anlehnung an die gewaltsam niedergeschlagenen Gezi-Proteste 2013 sagte Erdogan: „Das sind eben Gezi-Leute. Das sind die mit den Töpfen und Pfannen.“ Auch damals hatten Anwohner ihrem Protest durch das Schlagen auch Kochtöpfe Ausdruck verliehen.
Nach dem vorläufigen Endergebnis stimmten am Sonntag 51,4 Prozent für die Verfassungsreform. Die Wahlbeteiligung lag nach Regierungsangaben bei mehr als 85 Prozent. Vorerst bleiben der Ministerpräsident und die Regierung im Amt. Erst nach Wahlen, die 2019 geplant sind, wird der Präsident Staats- und Regierungschef.