Nach der Festnahme wichtiger Oppositionspolitiker in der Türkei wird in Deutschland und Europa die Sorge um die demokratische Entwicklung des Nato-Partnerlandes immer größer. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den amtierenden türkischen Gesandten am Freitag zum Gespräch ins Auswärtige Amt. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Festnahmen von Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP bestätigten „alle internationalen Befürchtungen“.
Ähnliche Schritte gab es in anderen EU-Staaten. So bestellte der dänische Außenminister Kristian Jensen den türkischen Botschafter ein und forderte „klare Antworten“ von der Türkei. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini berief ein Treffen der EU-Botschafter in Ankara ein. Sie sei „äußerst beunruhigt“ über die Festnahme des HDP-Chefs Selahattin Demirtas und anderer Parlamentarier, twitterte die Italienerin.
Steinmeier ließ eine ungewöhnlich scharfe Erklärung verbreiten. Darin heißt es, niemand bestreite das Recht der Türkei, Terrorismus zu bekämpfen und den gescheiterten Putschversuch mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuarbeiten. „Das darf aber nicht als Rechtfertigung dafür dienen, die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen.“ Die Türkei wird in Berlin nach dem Abschied des bisherigen Botschafters aktuell nur durch einen Gesandten vertreten.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Regierungssprecher Seibert sagte: „Es bleibt dabei: Es ist in hohem Maße alarmierend, was derzeit in der Türkei geschieht.“ Zugleich mahnte er die türkische Regierung, rechtsstaatliche Grundsätze zu wahren. „Soweit wir daran Zweifel haben, sprechen wir dies gegenüber unseren türkischen Partnern auch auf allen Ebenen an.“ Die jüngste Entwicklung werde auch auf die laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei Auswirkungen haben. Ins Detail ging er nicht.
Die beiden Vorsitzenden der prokurdischen Oppositionspartei HDP vorgegangen wurden laut Anwälten am frühen Freitagmorgen festgenommen. Selahattin Demirtas sei bei einer Razzia in seinem Haus in Ankara in Gewahrsam genommen worden, sagten Vertreter der Partei. Co-Chefin Figen Yüksekdag wurde demnach in der Stadt Diyarbakir im Südosten des Landes abgeführt. Zudem sei die Parteizentrale in Ankara durchsucht, mindestens neun weitere Abgeordnete der drittstärksten Gruppierung im Parlament seien festgesetzt worden.
Wenige Stunden später wurden bei einem Autobombenanschlag in Diyarbakir laut Ministerpräsident Binali Yildirim mindestens acht Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Der Anschlag ereignete sich in der nähe der Polizeistation der Stadt. Getötet wurden laut Bozdag sowohl Polizeikräfte wie auch Zivilisten. Es handele sich um eine Tat kurdischer Extremisten. Ein mutmaßliches Mitglied der verbotenen Arbeiterpartei PKK sei ebenfalls getötet worden.
Den festgenommenen HDP-Politikern wird laut Yildirim vorgeworfen, in einem Strafverfahren die Aussage verweigert zu haben. Gewählte Abgeordnete, die den Terrorismus förderten, müssten sich vor Gericht verantworten. Die beiden HDP-Chefs gehören zu etlichen Abgeordneten im türkischen Parlament, deren Immunität im Mai auf Anordnung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aufgehoben worden war. Erdogan bezeichnet die im Parlament vertretene HDP als verlängerten Arm der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP weist die Vorwürfe entschieden zurück. Im September hatte die Türkei in Kurdenprovinzen 28 gewählte Bürgermeister wegen des Vorwurfs der Terrorunterstützung gegen neue Verwalter ausgetauscht.
Definitionen und Zusammenhänge
In Asien nannte man sie „amucos“ - Krieger, die den Feind ohne Angst vor dem Tod angreifen und vernichten. Heute beschreibt der Begriff in der Regel blindwütige Aggressionen – mit und ohne Todesopfer. Die meisten Amokläufer sind männlich und eigentlich unauffällig, in vielen Fällen ledig oder geschieden. Neben psychisch kranken Tätern gibt es auch Amokläufer, die aus banalen Gründen plötzlich ausrasten. Angst, Demütigung oder Eifersucht haben sich oft lange aufgestaut, bevor es zur Katastrophe kommt. Teils werden Taten auch im Kopf durchgespielt. „Amok“ kommt aus dem Malaiischen und bedeutet „wütend“ oder „rasend“.
Attentate sind politisch oder ideologisch motivierte Anschläge auf das Leben eines Menschen, meistens auf im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeiten. Der Ausdruck „Attentäter“ wiederum wird auch für Menschen verwendet, die einen Anschlag auf mehrere Menschen begehen. Terroristische Attentäter zielen etwa auf Angehörige eines ihnen verhassten Systems oder einer Religion ab. Mit Anschlägen auf öffentlichen Plätzen, in Verkehrsmitteln oder auf Feste versuchen sie, in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Begriff „Attentat“ leitet sich vom lateinischen attentare (versuchen) im Sinne eines versuchten Verbrechens ab.
Terrorismus ist politisch motivierte, systematisch geplante Gewalt, die sich gegen den gesellschaftlichen Status quo richtet und auf politische, religiöse oder ideologische Veränderung ausgerichtet ist. Dass Terroristen töten und zerstören, ist Mittel zum Zweck. Sie wollen vor allem Verunsicherung in die Gesellschaft tragen. Terrorakte richten sich oft gegen die Zivilbevölkerung oder symbolträchtige Ziele.
Terror geht auf das lateinische Wort „terrere“ zurück, was „erschrecken“ oder „einschüchtern“ bedeutet. Terror und Terrorismus werden oft gleichbedeutend verwendet. Im Unterschied zum Terrorismus bezeichnet der Begriff „Terror“ aber eher das Machtinstrumentarium eines Staates. Der „Terror von oben“ steht für eine Schreckensherrschaft, die willkürlich und systematisch Gewalt ausübt, um Bürger und oppositionelle Gruppen einzuschüchtern. Auch in die Umgangssprache hat der Begriff Eingang gefunden - etwa für extreme Belästigung, zum Beispiel Telefonterror.
HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament. Sprecher Ayhan Bilgen sagte, den Verhaftungen fehle jegliche rechtliche Basis, und es handele sich um eine "klare politische Aktion" und zudem um den Versuch, einen Bürgerkrieg loszubrechen. Die HDP werde eine demokratische Reaktion auf die Verhaftungen zeigen. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag unterstrich dagegen, das Vorgehen stehe im Einklang mit den Gesetzen.
Vor wenigen Tagen waren in der Türkei "Cumhuriyet"-Chefredakteur Murat Sabuncu und führende Mitarbeiter des Blattes verhaftet worden. Die Sicherheitsbehörden werfen der Spitze der Zeitung vor, das Gülen-Netzwerk und militante kurdische Gruppen zu unterstützen. Seit dem Putschversuch im Juli sind zudem rund 50.000 Akademiker, Lehrer und Pädagogen aus dem Staatsdienst wegen angeblicher Beziehungen zum Gülen-Netzwerk oder zur PKK entlassen worden. Weltweit löste die Verhaftung der "Cumhuriyet"-Spitze Proteste aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte es in höchstem Maße alarmierend, dass das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei immer wieder aufs Neue eingeschränkt werde.
Erdogan wiederum warf Deutschland am Donnerstag vor, zu einem "wichtigen Hafen für Terroristen" geworden zu sein. Es biete militanten Unterstützern der PKK und der linksgerichteten Gruppierung DHKP-C Unterschlupf.
Die Grünen riefen zu scharfen Reaktionen auf die Festnahme der Spitze der prokurdischen Partei HDP in der Türkei auf. Nötig seien jetzt starke gemeinsame Signale, die in Ankara auch verstanden werden würden, sagte Parteichef Cem Özdemir. "Ich schlage vor, dass alle demokratischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, gemeinsam agieren." Er forderte die Bundesregierung auf, den deutschen Botschafter in Ankara zu Konsultationen nach Berlin zurückzubeordern als Zeichen gegen das Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen die parlamentarische Opposition.