Nach Festnahmen von Politikern Steinmeier bestellt türkischen Gesandten ein

Bei nächtlichen Razzien werden elf Abgeordnete der HDP festgenommen, darunter die Parteichefs. Außenminister Steinmeier bestellt deshalb den türkischen Gesandten ein.

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Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat den türkischen Gesandten einbestellt. Quelle: dpa

Nach der Festnahme wichtiger Oppositionspolitiker in der Türkei wird in Deutschland und Europa die Sorge um die demokratische Entwicklung des Nato-Partnerlandes immer größer. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den amtierenden türkischen Gesandten am Freitag zum Gespräch ins Auswärtige Amt. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Festnahmen von Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP bestätigten „alle internationalen Befürchtungen“.

Ähnliche Schritte gab es in anderen EU-Staaten. So bestellte der dänische Außenminister Kristian Jensen den türkischen Botschafter ein und forderte „klare Antworten“ von der Türkei. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini berief ein Treffen der EU-Botschafter in Ankara ein. Sie sei „äußerst beunruhigt“ über die Festnahme des HDP-Chefs Selahattin Demirtas und anderer Parlamentarier, twitterte die Italienerin.

Steinmeier ließ eine ungewöhnlich scharfe Erklärung verbreiten. Darin heißt es, niemand bestreite das Recht der Türkei, Terrorismus zu bekämpfen und den gescheiterten Putschversuch mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuarbeiten. „Das darf aber nicht als Rechtfertigung dafür dienen, die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen.“ Die Türkei wird in Berlin nach dem Abschied des bisherigen Botschafters aktuell nur durch einen Gesandten vertreten.

Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis

Regierungssprecher Seibert sagte: „Es bleibt dabei: Es ist in hohem Maße alarmierend, was derzeit in der Türkei geschieht.“ Zugleich mahnte er die türkische Regierung, rechtsstaatliche Grundsätze zu wahren. „Soweit wir daran Zweifel haben, sprechen wir dies gegenüber unseren türkischen Partnern auch auf allen Ebenen an.“ Die jüngste Entwicklung werde auch auf die laufenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei Auswirkungen haben. Ins Detail ging er nicht.

Die beiden Vorsitzenden der prokurdischen Oppositionspartei HDP vorgegangen wurden laut Anwälten am frühen Freitagmorgen festgenommen. Selahattin Demirtas sei bei einer Razzia in seinem Haus in Ankara in Gewahrsam genommen worden, sagten Vertreter der Partei. Co-Chefin Figen Yüksekdag wurde demnach in der Stadt Diyarbakir im Südosten des Landes abgeführt. Zudem sei die Parteizentrale in Ankara durchsucht, mindestens neun weitere Abgeordnete der drittstärksten Gruppierung im Parlament seien festgesetzt worden.

Wenige Stunden später wurden bei einem Autobombenanschlag in Diyarbakir laut Ministerpräsident Binali Yildirim mindestens acht Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Der Anschlag ereignete sich in der nähe der Polizeistation der Stadt. Getötet wurden laut Bozdag sowohl Polizeikräfte wie auch Zivilisten. Es handele sich um eine Tat kurdischer Extremisten. Ein mutmaßliches Mitglied der verbotenen Arbeiterpartei PKK sei ebenfalls getötet worden.

Den festgenommenen HDP-Politikern wird laut Yildirim vorgeworfen, in einem Strafverfahren die Aussage verweigert zu haben. Gewählte Abgeordnete, die den Terrorismus förderten, müssten sich vor Gericht verantworten. Die beiden HDP-Chefs gehören zu etlichen Abgeordneten im türkischen Parlament, deren Immunität im Mai auf Anordnung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aufgehoben worden war. Erdogan bezeichnet die im Parlament vertretene HDP als verlängerten Arm der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP weist die Vorwürfe entschieden zurück. Im September hatte die Türkei in Kurdenprovinzen 28 gewählte Bürgermeister wegen des Vorwurfs der Terrorunterstützung gegen neue Verwalter ausgetauscht.

Definitionen und Zusammenhänge

HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament. Sprecher Ayhan Bilgen sagte, den Verhaftungen fehle jegliche rechtliche Basis, und es handele sich um eine "klare politische Aktion" und zudem um den Versuch, einen Bürgerkrieg loszubrechen. Die HDP werde eine demokratische Reaktion auf die Verhaftungen zeigen. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag unterstrich dagegen, das Vorgehen stehe im Einklang mit den Gesetzen.

Vor wenigen Tagen waren in der Türkei "Cumhuriyet"-Chefredakteur Murat Sabuncu und führende Mitarbeiter des Blattes verhaftet worden. Die Sicherheitsbehörden werfen der Spitze der Zeitung vor, das Gülen-Netzwerk und militante kurdische Gruppen zu unterstützen. Seit dem Putschversuch im Juli sind zudem rund 50.000 Akademiker, Lehrer und Pädagogen aus dem Staatsdienst wegen angeblicher Beziehungen zum Gülen-Netzwerk oder zur PKK entlassen worden. Weltweit löste die Verhaftung der "Cumhuriyet"-Spitze Proteste aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte es in höchstem Maße alarmierend, dass das hohe Gut der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei immer wieder aufs Neue eingeschränkt werde.

Erdogan wiederum warf Deutschland am Donnerstag vor, zu einem "wichtigen Hafen für Terroristen" geworden zu sein. Es biete militanten Unterstützern der PKK und der linksgerichteten Gruppierung DHKP-C Unterschlupf.

Die Grünen riefen zu scharfen Reaktionen auf die Festnahme der Spitze der prokurdischen Partei HDP in der Türkei auf. Nötig seien jetzt starke gemeinsame Signale, die in Ankara auch verstanden werden würden, sagte Parteichef Cem Özdemir. "Ich schlage vor, dass alle demokratischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, gemeinsam agieren." Er forderte die Bundesregierung auf, den deutschen Botschafter in Ankara zu Konsultationen nach Berlin zurückzubeordern als Zeichen gegen das Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen die parlamentarische Opposition.

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