Ein 17-jähriger Flüchtling nimmt eine Axt, steigt in einen Zug und will Menschen töten. Er verletzt vier Mitreisende schwer, auf der Flucht eine weitere Person. Dann wird der Jugendliche, der vor einem Jahr ohne Begleitung nach Deutschland kam, von einem Sondereinsatzkommando erschossen. Später reklamiert der Islamische Staat das Attentat für sich.
Das sind die Fakten zum Attentat in einer Würzburger Regionalbahn. Alles andere sind ungesicherte Informationen, Spekulationen und Annahmen. Selbst die Frage der Nationalität ist nicht geklärt. Der 17-Jährige war als Afghane eingereist. Nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maizière liegt ein Antrag für eine Familienzusammenführung vor, die Familienmitglieder leben demnach in Afghanistan. Dennoch wird in Ermittlerkreisen diese Herkunft bezweifelt. Möglicherweise stammte er auch aus dem benachbarten Pakistan.
Die wichtigste Frage, auf die es bislang keine gesicherten Erkenntnisse gibt: Wieso verübt ein Jugendlicher, der den Weg nach Deutschland findet, in einer Pflegefamilie lebt und sogar einen Ausbildungsplatz in Aussicht hat, eine solche Tat?
Peter Neumann vom Internationalen Zentrum für Radikalisierung am King's College in London spricht von einer „Blitzradikalisierung“. Die Vermutung liege nahe, dass sich der Täter von Würzburg innerhalb der letzten Wochen in Deutschland radikalisiert habe, sagt Neumann in einem Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen. „Das ist ungewöhnlich. Typischerweise dauern Radikalisierungsprozesse mehrere Monate oder gar Jahre. Das ist eine neue Qualität.“
Wie läuft das ab? Was sind Auslöser für eine solche Blitzradikalisierung? Politologe und Pädagoge Thomas Mücke fallen im Interview mit Zeit Online eine Vielzahl von Möglichkeiten ein. Der Täter von Würzburg könnte in Zusammenhang mit der Attacke in Nizza ein Nachahmungstäter sein. Ebenso könnten private Probleme den Ausschlag gegeben habe. Mücke sieht aber kein erhöhtes Radikalisierungsrisiko unter jungen Flüchtlingen. Die hätten zwar Krieg und Gewalt miterlebt. „Aber das macht sie nicht gefährlich.“
Wieso fliehen junge Afghanen nach Europa - und wie radikal sind sie?
Den IS gibt es in Afghanistan erst seit Anfang 2015, und sein Wachstum ist auch wegen blutiger Rivalitäten mit den Taliban stark gebremst. Seine Kämpfer - angeblich derzeit rund 2500 - sind in nur ein bis zwei der 34 afghanischen Provinzen aktiv. US-Drohnen fliegen derzeit mehrmals wöchentlich Luftangriffe auf ihre Stellungen.
Afghanistan ist immer noch eins der ärmsten Länder der Welt. Die Arbeitslosenrate wird auf etwa 40 Prozent geschätzt. Gleichzeitig verschlechtert sich die Sicherheitslage. Seit dem Ende der Nato-Kampfmission im Dezember 2014 fühlen sich die Taliban in vielen Provinzen ermutigt. 31 von 34 Provinzen waren nach UN-Angaben in 2015 von Gewalt betroffen. Vor allem junge Menschen und solche mit Schulbildung sehen keine Zukunft in Afghanistan.
Das ist schwer festzustellen. Viele der jungen Flüchtlinge gehören zur dünnen Mittelschicht. Sie haben Schul- und manchmal auch Universitätsbildung. Das Interesse der großen Mehrheit scheint nicht der Dschihad, sondern ein besseres Leben zu sein. Allerdings nimmt dem Rechercheinstitut Afghanistan Analysts Network zufolge die Radikalisierung auch an Afghanistans Universitäten zu.
Es sieht so aus - aber gestoppt ist die Fluchtbewegung damit nicht. Einer der vielen Menschenschmuggler in Kabul sagte der Deutschen Presse-Agentur, dass er im vergangenen Jahr täglich bis zu 25 bis 30 „Kunden“ außer Landes geschafft habe. Nun seien es zehn bis zwölf.
Afghanische Medien berichten am Dienstag über die Tat. In der Hauptstadt Kabul sind die Menschen schockiert. Von hier sind Tausende Flüchtlinge nach Europa aufgebrochen, viele Menschen haben nun Verwandte und Freunde in Deutschland. Sie hoffen, dass dass nicht alle Afghanen wegen der Tat eines Einzelnen verurteilt werden. Das müsse „ein Psycho“ gewesen sein, sagt ein Wirtschaftsstudent, Said Taufik Jakin, 26. Aber man müsse auch bedenken, was ihn möglicherweise zu seiner Tat getrieben habe: „Ich höre von meinen Freunden in Deutschland, dass afghanische Flüchtlinge dort eine Menge Probleme haben.“
Ahmad Mansour von der „European Foundation for Democracy“ ist anderer Meinung. „Islamisten haben schon bemerkt, dass vor allem die unbegleiteten Minderjährigen eine instabile Gruppe sind“, sagt Mansour in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Junge Flüchtlinge suchten nach Vaterfiguren, Orientierung und Halt. „Und wenn die einzigen, die ihnen Angebote machen, die Salafisten sind, dann werden wir ein Problem haben.“