Herr Professor Wielenga, Ihr Heimatland gilt als ausgesprochen liberal. Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen der niederländischen und türkischen Regierung um die Wahlkampfauftritte von AKP-Politikern in Rotterdam?
Das hat nicht viel mit der niederländischen Liberalität zu tun, auch wenn die in den letzten fünfzehn Jahren durchaus gelitten hat und im Ausland immer größer wahrgenommen wurde, als sie tatsächlich war. Der Streit mit der türkischen Regierung war vielmehr diplomatischer Natur. Einerseits sind viele Politiker in den Niederlanden der Meinung, man dürfe türkischen Politikern keinen Auslandswahlkampf ermöglichen, wenn diese die Opposition im eigenen Land massiv unterdrücken. Denken Sie an Deniz Yücel, den inhaftierten deutschen Journalisten. Wenn Ankara die Basiswerte demokratischer Rechtsstaaten nicht akzeptiert, ist es verständlich, das Werben für die Abschaffung der Demokratie im eigenen Land zu unterbinden.
Und andererseits?
Die niederländische Regierung war ja durchaus zu Kompromissen bereit. Man hat beispielsweise dem türkischen Außenminister, Mehmet Cavusoglu, signalisiert, dass er in die Niederlande einreisen darf. Allerdings wollte die Regierung von Mark Rutte (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, VVD) keine große Veranstaltung genehmigen. Dann hat Ankara versucht, die Niederlande zu erpressen: Wenn Cavusoglu nicht reden darf, dann verhängen wir Sanktionen. In dem Moment konnte Rutte nicht zurück. Ich glaube, man hat schon versucht, mit der Türkei im Gespräch zu bleiben. Aber die Forderungen, die die türkische Regierung gestellt hat, waren einfach nicht akzeptabel. Da ist nicht Liberalität oder Toleranz der entscheidende Aspekt, sondern die Frage, wie man damit umgeht, wenn man in diplomatischen Verhandlungen unter Druck gesetzt und dann auch noch erpresst wird.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Niederländer am Sonntag davor gewarnt, die niederländisch-türkischen Beziehungen den Parlamentswahlen „zu opfern“. Der niederländische Premier Rutte dagegen sprach am Samstag bloß von einem „schlechten Tag“. Sehen Sie das Verhältnis langfristig in Gefahr?
Ich denke nicht. Die Türkei sucht jetzt die Konfrontation mit Westeuropa, wie sie es auch im Fall von Deutschland und Österreich getan hat. Allerdings glaube ich, dass der Ton diesmal härter war. Gegenüber Berlin hat sich Ankara nicht getraut, mit Sanktionen zu drohen.
Erdogan sucht die Konfrontation, weil ihm das im eigenen Land viel Unterstützung bringt. Übrigens auch bei den Türken in Europa – in den Niederlanden leben 400.000 türkischstämmige Menschen, die überwiegend einen niederländischen Pass haben. Wenn die Wahlen vorbei sind, und wenn das Referendum in der Türkei vorbei ist, werden die Spannungen wieder abgebaut. Mit Sanktionen dagegen würde die Türkei auch sich selbst treffen.
Niederlande-Wahl: Diese Parteien haben Chancen
Die Niederländer wählen ein neues Parlament. 28 Parteien bewerben sich um insgesamt 150 Sitze in der Zweiten Kammer. Davon haben 14 Aussicht auf mindestens ein Mandat. In der zersplitterten Parteienlandschaft kann nur eine Koalition von vier oder fünf Parteien regieren. Die Partei für die Freiheit des Rechtspopulisten Geert Wilders könnte Umfragen zufolge zweitstärkste Kraft werden. Doch die etablierten Parteien lehnen eine Zusammenarbeit mit Wilders ab. Die wichtigsten Parteien, aufgelistet nach ihrer jetzigen Fraktionsstärke:
Die rechtsliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) von Ministerpräsident Mark Rutte wurde bei der Wahl 2012 mit 41 Sitzen stärkste Fraktion. Die Umfragen sagen ihr herbe Verluste voraus. Doch mit 24-28 Sitzen kann die VVD immer noch stärkste Kraft werden.
Ruttes Koalitionspartner, die sozialdemokratische Partei der Arbeit erreichte 2012 insgesamt 38 Mandate. Davon spalteten sich drei Abgeordnete ab. Vizepremier Lodewijk Asscher führte die Sozialdemokraten im Wahlkampf. Doch nach den Umfragen droht der Partei das schlechteste Ergebnis der Parteigeschichte mit 10 bis 12 Sitzen.
Die Sozialistische Partei könnte ihr bisheriges Ergebnis von 15 Sitzen wiederholen.
Die Christdemokraten haben zur Zeit 13 Mandate und können mit deutlichen Zugewinnen und 19-21 Sitzen rechnen.
Die Partei für die Freiheit von Geert Wilders hat nach mehreren Abspaltungen nur noch 12 Abgeordnete im Parlament. Das könnten nach den Umfragen 19 bis 23 werden.
Auch den linksliberalen D66 werden Gewinne vorhergesagt. Die Fraktion von zur Zeit 12 Abgeordneten könnte auf 17 bis 19 anwachsen.
Die grüne Partei hat zur Zeit vier Mandate. Doch der neue Spitzenkandidat Jesse Klaver wird nach allen Prognosen für ein sensationelles Ergebnis sorgen: 16 bis 18 Mandate.
Die Seniorenpartei, mit zur Zeit nur einem Sitz, wird zulegen und kann auf 3 bis 5 Mandate hoffen.
Welchen Einfluss werden die Auseinandersetzungen zwischen den Niederlanden und der Türkei auf den Ausgang der Wahl nehmen?
Mark Rutte wird meiner Meinung nach davon profitieren. Auf den ersten Blick mag der Konflikt wie ein Wahlgeschenk für Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid, PVV) aussehen. Der kann jetzt sagen: Mit den islamischen Ländern kann man keine Gespräche führen. Und er kann sagen: Schaut euch an, wie viele Türkischstämmige hier für Erdogan demonstrieren – Integration funktioniert nicht!
Doch das täuscht?
Die übergroße Mehrheit der Niederländer findet die Reaktion von Mark Rutte angemessen. Er war hart in der Sache, aber klar, und damit erfolgreich. Er war auch immer bereit zur Deeskalation. Der christdemokratische Parteichef Sybrand Buma (Christen Democratisch Appèl, CDA) hat beispielsweise gefordert, das Assoziierungsabkommen der EU mit der Türkei aufzulösen. Da sagt Rutte: Lass’ die Kirche im Dorf, wir müssen es nicht weiter unnötig schwierig machen. Das sehen auch die meisten Wähler so. Wilders dagegen hat nur um sich geschlagen. Er wollte die diplomatischen Beziehungen abbrechen, Demonstranten des Landes verweisen. Damit löst man keine Probleme. Rutte dagegen konnte mit seiner Strategie punkten.