4) Aus Sicht der Zentralbank geht es deutschen Sparern gar nicht schlecht
Natürlich weiß man auch am Frankfurter Osthafen, wo die EZB ihren neuen Sitz hat, dass durch die niedrigen Zinsen viele Sparguthaben kaum noch Rendite abwerfen. Zudem belasten die Null- und Negativzinsen die Bilanzen der Unternehmen. Um die Pensionszusagen für ihre Mitarbeiter zu erfüllen, müssen viele Firmen angesichts der fehlenden Zinseszins-Effekte mehr Geld in die Rücklagen stecken. Anleger schließlich werden auf der Suche nach Rendite in immer risikoreichere Investments gedrängt. Die Folgen sind Preisblasen.
Doch Draghis Daten zeigen ihm auch: die Sparfreude der Deutschen leidet darunter kaum. Im Gegenteil: die Sparquote hierzulande steigt seit Jahren kontinuierlich an. Außerdem, meint der EZB-Chef, komme es ja auf den Realzins an. Wenn es keine Inflation, also keine Geldentwertung, gebe, seien auch 0,5 Prozent Zinsen ein realer Gewinn. Und die implodierenden Geschäftsmodelle der Pensionskassen? In den USA habe es auch schon mal acht Jahre mit Nullzins gegeben. Außerdem: Nicht die Geldpolitik muss sich an die Geschäftsmodelle der Pensionskassen anpassen, sondern umgekehrt. „Den Mindestlohn halten die Deutschen für Teufelszeug. Aber einen Mindestzins soll es bitteschön geben“, ist einer der Witze, die man sich darüber in EZB-Kreisen gerne erzählt.
Geldpolitik der EZB: Entlastungen durch Niedrigzinsen
Verbraucher sparen bei Darlehen, ob für den neuen Fernseher oder für die eigenen vier Wände. Hausbauer können sich zu historisch günstigen Konditionen Geld leihen. Nach Angaben des Bankenverbandes BdB sind Hypothekendarlehen mit zehn Jahren Zinsbindung derzeit zu Effektivzinsen von durchschnittlich etwa 1,4 Prozent zu haben. 2007 lagen sie noch bei mehr als fünf Prozent.
Billiger ist es auch geworden, das eigene Konto zu überziehen. Vor fünf Jahren lagen die Dispozinsen nach Angaben der Finanzberatung FMH im Schnitt noch bei 11,26 Prozent. Mittlerweile sind es demnach durchschnittlich 9,51 Prozent.
Seit Jahren ist günstiges Notenbankgeld der zentrale Treibstoff für die Börsen. Aktionäre können von steigenden Kursen profitieren. Zuletzt wagten sich die eher börsenscheuen Deutschen wieder stärker an den Aktienmarkt. Knapp 9,01 Millionen Menschen besaßen nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts im vergangenen Jahr Aktien und/oder Anteile an Aktienfonds - das ist der höchste Stand seit 2012.
Mit der Ausgabe von Anleihen finanziert die öffentliche Hand - neben Steuereinkünften - einen Großteil ihrer Ausgaben. Am Montag fiel die sogenannte Umlaufrendite, die ein durchschnittliches Maß für die „Verzinsung“ von Staatspapieren mit einer Laufzeit von drei bis 30 Jahren ist, in Deutschland erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik in den negativen Bereich. Der Bund „verdient“ in einer solchen Situation somit an seiner eigenen Schuldenaufnahme, anstatt den Gläubigern - den Käufern der Anleihen - einen Zins zu zahlen.
Stand: 7. Juni 2016
5) Es gibt kaum jemanden, der einen besseren Weg wüsste
Draghis Politik in Zahlen: Länder wie Frankreich oder Italien zahlen für ihre Staatsanleihen derzeit weniger als ein Prozent Zinsen. Seit März 2015 hat die EZB 1000 Milliarden Euro in die Welt gesetzt. Auf den Bankkonten der Zentralbank aber lagern 1022 Milliarden. Offenbar haben die Unternehmen also andere Probleme als frisches Kapital. Mehr als 700 Mal haben Zentralbanken weltweit seit 2008 die Zinsen gesenkt. Draghi belässt die Leitzinsen dennoch bei Null, kauft weiter Staatsanleihen und Unternehmensschuldscheine für 80 Milliarden Euro. Jeden Monat. Das soll noch bis zum Frühjahr 2017 so bleiben – vermutlich darüber hinaus. Immer mehr Beobachter fragen sich: Gibt es je einen Ausweg?
Jedenfalls keinen, den der EZB-Präsident für gangbar hält. Und da ist er sich ausnahmsweise mit vielen Experten einig. Die Zinsen nun zu erhöhen und den Patienten Eurozone quasi auf kalten Entzug vom billigen Geld zu setzen, hätte unabsehbare Folgen – vor allem für die südeuropäischen Länder, deren Banken noch immer marode und deren Märkte in Unordnung sind. Es ist ein Dilemma: mit Draghis Politik des lockeren Geldes würden Strukturreformen in den Mitgliedsstaaten verhindert, der Steuerungsmechanismus von Zinsen sei außer Kraft, sagt etwa der Ex-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD). „Gleichzeitig hätte es gravierende Folgen für viele Länder, wenn er seine Politik ändern würde.“
Nicht nur Steinbrück, auch Draghi, glaubt, dass die EZB alleine es nicht mehr schaffen kann, die Wirtschaft anzukurbeln und den Euro zu stabilisieren. Aus seiner Sicht muss aus der Währungsunion eine echte Fiskalunion werden, mit gemeinsamer Wirtschaftsregierung, womöglich gemeinsamen Steuern und Abgaben. Dafür aber müssen sich die Länder der Eurozone zunächst einander angleichen – und das sei eben nur mit Strukturreformen, riesigen staatlichen Investitionsprogrammen und strengen Regeln zu machen.
Unterstützung für diesen Kurs fand Draghi neulich bei den Chefs der 20 größten Industrie- und Schwellenländer. Anfang September stellten sie auf ihrem Treffen in China fest: Die Geldpolitik könne es nicht alleine richten. Vielmehr müssten die Länder nun strukturelle Reformen umsetzen und auf die Finanzpolitik setzen, um das weltweite Wachstum wieder zu beleben. Sollten sie ernst machen mit ihrer Ankündigung, wäre das vielleicht wirklich ein Weg, die ultralockere Geldpolitik in einigen Jahren wieder zu beenden: „Der Euroraum muss sich zunächst erholen. Deutschland würde stark davon profitieren“, sagt Draghi. „Damit wir in der Zukunft höhere Zinsen haben, müssen sie jetzt niedrig sein.“