Nizza Warum der Terror immer wieder Frankreich trifft

Nach dem Anschlag am Nationalfeiertag  steht Frankreich unter Schock. Abermals. Warum Anschläge immer wieder das Land der „Egalité“ treffen und was dem Westen im Kampf gegen den Terror zu tun bleibt.

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Nizza: Frankreich steht erneut unter Schock nach einem Terroranschlag. Quelle: Getty Images

Und wieder einmal trifft es Frankreich. Ein Lastwagen rast am Donnerstagabend, dem französischen Nationalfeiertag, gegen 22 Uhr in eine feiernde Menschenmenge auf einer Strandpromenade. Zwei Kilometer weit kommt er, bis ihn Sicherheitskräfte stoppen. Die traurige Bilanz: 84 Menschen sind tot und mehrere hundert verletzt, viele schwer.

„Ich dachte zunächst, irgendein Witzbold hat sein eigenes kleines Feuerwerk angezündet. Nur den Bruchteil einer Sekunde später ist ein riesiger weißer Lastwagen in wahnsinniger Geschwindigkeit vorbei gerast“, beschreibt der französische Journalist Damien Allemand auf Medium.com den Anschlag. „Dabei hat er immer wieder gelenkt, um möglichst viele Menschen niederzumähen.“ Allemand stand mitten in der Menschenmenge.

Laut Angaben der Polizei handelt es sich bei dem Fahrer des Lastwagens um einen 31-jährigen Franko-Tunesier. Ob er allein handelte oder ob es Hintermänner gab, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit feststellen.

Getötete und gefangen genommene Top-Terroristen

Dass es sich um ein weiches Ziel handelt, das sich unmöglich vollkommen überwachen lässt und ein symbolträchtiger Tag wie der 14. Juli für die Attacke gewählt wurde, legt allerdings den Schluss nahe, dass der Anschlag im Auftrag des Islamischen Staats vollzogen oder zumindest von ihm inspiriert wurde. Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta sagt: „Die Tat trägt die unverkennbare Handschrift des IS.“ 

Ob der Anschlag nun auf den IS zurückzuführen ist oder nicht – wahrscheinlich wird die Terrororganisation die Tat für sich beanspruchen. „Der IS kompensiert Gebietsverluste mit solchen Taten und zeigt seinen Anhängern, dass er immer noch schlagkräftig ist“, sagt Buchta. Seitdem er in Syrien und Irak nicht mehr auf dem Schlachtfeld reüssieren kann, hat ein Strategieschwenk stattgefunden: „Die Propaganda wurde in der Vergangenheit stärker auf solche Anschläge ausgerichtet.“

Islamistischer Terror gegen Europäer seit "Charlie Hebdo"

Frankreichs Präsident Francois Hollande war sich indes bereits in der Nacht sicher: An dem terroristischen Charakter der Tat bestehe kein Zweifel, sagte er um vier Uhr morgens in einer Ansprache an die Nation. „Frankreich ist an einem 14. Juli angegriffen worden, dem Symbol der Freiheit. Ganz Frankreich ist vom islamistischen Terror bedroht.“ Der Ausnahmezustand, der eigentlich Ende dieses Monats aufgehoben werden sollte, wurde verlängert. Und ein ganzes Land steht einmal mehr unter Schock.

Warum trifft es immer wieder Frankreich?

Seit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 ist Frankreich immer wieder von islamistischen Anschlägen erschüttert worden. Im November desselben Jahres durchlitt das Land die Terrornacht rund um das Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Frankreich mit mehr als 100 Toten. Im Juni dieses Jahres wurden in Magnanville zwei Polizeiangehörige ermordet. Und nun Nizza.

Die gesellschaftlich Abgehängte

Als Teil der Anti-IS- Allianz und weil es Angriffe in Syrien und im Irak fliegt, ist Frankreich für den islamistischen Terror ein attraktives Ziel. Dass es immer wieder Frankreich trifft, hat aber tiefergreifende Gründe. 

Zum einen die große gesellschaftliche Ungleichheit. In den Fünfzigerjahren warb Frankreich massiv Arbeitskräfte aus Nordafrika an, die für das französische Wirtschaftswunder gebraucht wurden. Bis in die Achtzigerjahre hinein erhielten sie eine Perspektive und gingen in der Masse der Franzosen auf. In dem Maße, in dem die Konjunktur erlahmte, verlangsamte sich dieser Integrationsprozess.

Die Folgen sind heute in den Banlieues, den Vororten Frankreichs, zu beobachten: Hierhin hat es in den vergangenen 30 Jahren die Verlierer der Gesellschaft verschlagen, vor allem die Zuwanderer aus Nordafrika. Im Land der „Egalité“ gibt es für viele von ihnen keine Chancen auf sozialen Aufstieg mehr. Sie sind wirtschaftlich wie sozial abgehängt und mit ihren enttäuschten Erwartungen alleingelassen von der Mehrheitsgesellschaft. Manche resignieren, manche driften ab in kriminelle Milieus, andere in islamistische.  

So schützen sich große Flughäfen vor Terror

„Potenzielle Attentäter fühlen sich ihrer Familie nicht zugehörig und in der Schule oder im Berufsleben nicht eingebunden“, so der Sozialpsychologe Andreas Zick. Bei Menschen mit solchen Gefühlen trifft die Todesideologie des islamistischen Terrors auf fruchtbaren Boden. „Sie interpretieren ihr Abgehängtsein als religiöse Unterdrückung. Junge Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen kompensieren damit ihr ganzes Versagen.“

Durch Freunde, Verwandte, Bekannte und das Internet radikalisieren sie sich weiter, wie Joachim Krause, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kiel und Direktor des dortigen Instituts für Sicherheitspolitik, sagt. „Dass solche Attentate immer wieder Frankreich und Belgien treffen, hängt mit den starken jihadistischen Milieus dort zusammen, die sich am Rand der Gesellschaft gebildet haben.“ Islamwissenschaftler Buchta spricht in diesem Zusammenhang vom „gesellschaftlichen Sprengstoff“. Und die islamistische Ideologie ist der Zünder.

Ein weiterer Grund dafür, dass es immer wieder Frankreich trifft, sind Mängel im französischen Sicherheitskonzept. „Die französischen Sicherheitsbehörden sind zutiefst gespalten“, sagt Buchta. „Die Gendarmerie und die Police nationale treten als konkurrierende Sicherheitsbehörden auf.“ Informationen werden nicht weitergegeben, Maßnahmen nicht koordiniert.  Das reißt Lücken in das engmaschige Sicherheitsnetz, die Attentäter ausnutzen.

Was macht der ständige Terror mit der französischen Gesellschaft?

Mit jedem erfolgreichen Anschlag wird die französische Gesellschaft weiter gespalten. „Der Terror stärkt Kräfte wie den Front National, die generell jeden Muslim verdächtigen“, sagt Krause. Das wiederum sorgt dafür, dass Muslime, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen wähnen, anfälliger für das Gedankengut radikaler Islamisten werden. „Das ist eine gefährliche Spirale.“

Islamistischen Organisationen, allen voran dem IS, spielen die sich verstärkenden gesellschaftlichen Spannungen in die Hände. In einem Klima, das sich generell gegen den Islam richtet, fühlen sich mehr und mehr Menschen gekränkt und werden empfänglicher für die islamistische Ideologie.

Mitunter braucht es dann nicht einmal einen konkreten Auftrag. Immer mehr Täter handeln unabhängig – wie zuletzt etwa in den USA – und schmücken sich lediglich mit der „Marke“ IS, um ihre Tat in einem größeren Kontext einzuordnen. „Zum Teil sind die Täter sich selbst aktivierende Desperados, die aus einem Gefühl der Marginalisierung heraus glauben, das Recht zu haben, sich an der Gesellschaft zu rächen“, sagt Buchta.

 

Wie wahrscheinlich sind solche Attacken in Deutschland?

Sicherheitsexperten warnen auch hierzulande vor einer realen Terrorgefahr. „Deutschland gehört zur Anti-IS-Koalition und ist damit ebenfalls ein mögliches Ziel“, sagt etwa Sicherheitsberater Florian Peil. „Die Frage ist nicht, ob ein Anschlag hier geschehen wird, sondern wann.“ 

Milieus, in denen sich die gefährliche Mixtur aus gesellschaftlichem Abgehängtsein und islamistischer Ideologie trifft, sieht Krause auch in Deutschland. „Aber diese Milieus sind kleiner als etwa in Frankreich oder Belgien“, sagt der Politikwissenschaftler. Die Sicherheitsbehörden hätten trotzdem Schwierigkeiten, sie zu überwachen.

In Deutschland soll es zwischen 400 und 500 sogenannte Gefährder geben. Das sind Personen, bei denen davon auszugehen ist, dass sie bereit sind, Anschläge auszuführen – im Auftrag einer Terrororganisation oder eigenständig. „Das ist schon eine  große Zahl“, so Krause. „Zu Zeiten des RAF-Terrors gab es gerade mal 60 bis 70 Gefährder.“

Große Terroranschläge in Europa

 

Was kann der Westen gegen den Terror tun?

Wie nach jedem Anschlag in Europa werden nun wieder die Stimmen laut, die ein härteres Vorgehen der Sicherheitskräfte fordern und mehr Überwachungsmaßnahmen. Das bekämpft aber lediglich Symptome.

Die Politik in Frankreich wie in Deutschland muss beginnen, den Terrorismus als gesellschaftliches Problem zu bekämpfen. „Es muss verhindert werden, dass die Menschen nach Syrien ausreisen wollen, dann tatsächlich ausreisen und in Camps die Fähigkeiten für solch komplexe Anschläge erlernen“, sagt Sicherheitsberater Peil. Dafür braucht es Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen genauso wie Programme zur Deradikalisierung.

Sozialpsychologe Zick berichtet, dass bei ehemaligen Rechtsextremen intensive Gespräche und Betreuung dazu beigetragen haben, „diejenigen zu entideologisieren, die das Töten von Menschen einer vermeintlich minderwertigen Rasse für gerechtfertigt hielten.“ Das könne auch bei Islamisten gelingen. „Wir müssen an ihrem Selbstbild als Kämpfer vorbeikommen und versuchen, diese Menschen als Individuen zu erreichen.“

All das braucht viel Zeit und dämmt das Problem lediglich ein. Absoluten Schutz gibt es nicht. Islamwissenschaftler Buchta betont: „Trotz des Integrationswillens und der Bemühungen weiter Teile der Gesellschaft – es wird immer junge Muslime mit gescheiterten sozialen Lebensentwürfen, hochgradig labiler Psyche und teils sogar krimineller Vergangenheit geben. Eben diese Muslime, die glauben, dass sie sozial und wirtschaftlich benachteiligt werden, sind es, die auf der Suche nach Halt, Orientierung und Sinn im Leben leichte Opfer der Todestheologie des IS werden.“

Der Westen kann nur versuchen, diesen Menschen eine Perspektive zu geben. Bevor Islamisten es tun.

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