Was ist das hier? Ein Open-Air-Festival? Ein Uni-Seminar unter freiem Himmel? Und in den Vorlesungspausen gibt es Poetry Slam, afrikanische Tänze und Trommelkurse? Wer in diesen Tagen über die Place de la République in Paris läuft, trifft dort vor allem in den Abendstunden auf eine verwirrende Mischung aus Volksfestatmosphäre und politischen Debatten. „Nuit Debout“ heißt die Protestbewegung, die seit dem 31. März die Nacht zum Tag macht und eine neue Zeitrechnung ausgerufen hat. Für sie ist am heutigen Donnerstag der 45. März, und ihre Anhänger wollen Wache halten bis... Ja, bis was genau eintritt?
So genau vermag das selbst von den oft bis zu tausend meist jungen Leuten keiner zu sagen, die jeden Abend wieder auf den Platz strömen. Von der „Konvergenz aller Kämpfe“ spricht eine Studentin, aber das hilft nicht wirklich als Orientierung für die Ziele derer, die hier aufrecht (debout) Wache halten. Entzündet hat sich der Protest an der geplanten Arbeitsmarktreform der sozialistischen Regierung. Sie soll Betrieben erlauben, Arbeitszeiten flexibler zu gestalten und damit de facto die seit 16 Jahren geltende 35-Stunden-Woche aufbrechen.
Doch seither scheint sich mitten in Paris, am Fuß der heroischen Statue der Nationalheiligen Marianne, vor allem eine diffuse, seit Jahren schwelende Ratlosigkeit und Zukunftsangst Luft zu machen. Bei den Debatten geht es auch um Klimaschutz, die Digitalisierung der Arbeitswelt und ihre Folgen, die Flüchtlingspolitik, das Gesundheitssystem oder den Feminismus (mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass Frauen und Männer daran teilnehmen können). Charakteristisch war vor einigen Tagen auf der allabendlich stattfindenden „Hauptversammlung“ der Schlusssatz eines gewissen Pierre: „Vielleicht habe ich totalen Unsinn erzählt,“ schrie er am Ende seiner Wortmeldung ins Mikrophon. „Aber wenigstens habe ich es mal gesagt!“
Endlich einmal aufmucken, dem politischen Establishment entgegen schreien, dass man „ras-le-bol“ hat, also die Nase voll: Das ist es, worauf sich die Teilnehmer der Nuit Debout jenseits aller noch so unkonkreten politischen Ziele einigen können.
„Die Place de la République ist seit den Attentaten im Januar und November 2015 zu einem Ort der Trauer geworden. Aber diese Morde haben auch den Staatsbürgersinn geweckt,“ sagt Robi Morder, der als Vorsitzender der Forschungsgruppe GERME Studentenbewegungen untersucht. „Man muss Nuit Debout als ein riesiges Forum werten, als Versammlungsort, der dem dringenden Bedürfnis Platz schafft, sich auszudrücken.“
Damit ist die Bewegung zum kleinen Spiegelbild einer verunsicherten französischen Gesellschaft und ihrer Politikverdrossenheit geworden. Viele Franzosen fühlen sich nach fast vier Jahren sozialistischer Regierung um das Versprechen auf eine bessere Zukunft betrogen. Staatschef François Hollande war angetreten mit einer Kampfansage an die Finanzwelt und einem Plädoyer für mehr soziale Gerechtigkeit. Anschließend vollführte er eine im Ausland als zögerlich, von seinen Wählern aber als brüsk empfundene Wende hin zum Sozialliberalismus. Diese kreiden sie ihm an, vor allem, weil sie keine spürbaren Verbesserungen bringt.
Die Wirtschaft tritt auf der Stelle, alles, was wächst, scheint die Arbeitslosigkeit zu sein. 3,6 Millionen Menschen sind, Frankreichs Überseegebiete nicht mitgezählt, derzeit ganz ohne Job. Weitere 1,8 Millionen arbeiten Teilzeit mit häufig auf weniger als fünf Wochen befristeten Arbeitsverträgen. Und das, obwohl die Regierung den Arbeitgebern in den vergangenen Jahren mit Steuererleichterungen die Schaffung neuer Jobs schmackhaft machen wollte.
Das ohnmächtige Gefühl, nicht gehört zu werden
Da schürt es die Wut, wenn ein Autokonzern wie PSA 17.000 Stellen streicht, um sich gesund zu schrumpfen - und dessen Chef zwei Jahre später sein Gehalt inklusive Erfolgszuwendungen auf mehr als 5 Millionen Euro verdoppelt. Die Veröffentlichung der Panama Papers - auch sie sind Thema auf der Place de la République - unterstreicht nur die Überzeugung, dass ein paar Reiche auf Kosten der Mehrheit leben. Und nun sollen auch noch als fundamental geltende Rechte der Arbeitnehmer beschnitten werden, um – so der Eindruck – erneut den Bossen die großen Brocken zuzuwerfen.
Waren es bisher Gewerkschaften, die Widerstand organisiert auf die Straße trugen, oder die rechtsnationale Partei Front National, die bei den vergangenen Regional- und Kommunalwahlen absahnte, wollen sich die „Aufrechten“ keinerlei System unterordnen. Die meisten verordnen sich politisch zwar links der Mitte, aber Wortführer gibt es ausdrücklich nicht. Hier darf sich jeder als Sprecher einer Gesellschaft fühlen, die sich von ihrem politischen Führungspersonal verlassen glaubt.
76 Prozent der Franzosen sind aktuellen Umfragen zu Folge dagegen, dass Staatspräsident François Hollande sich 2017 erneut zur Wahl stellt. Da erscheint es geradezu bezeichnend für den tiefen Bruch zwischen Gesellschaft und Politik, dass Sozialistenchef Jean-Christophe Cambadélis am gestrigen Mittwoch „La Belle Alliance Populaire“ ausgerufen hat. Diese „Schöne Volksallianz“ – die Wortschöpfung allein ist rührend realitätsfern – soll alle politischen Kräfte links der Mitte zu einer Wahlkampfmaschine für den amtierenden Präsidenten zusammenschweißen. Heute Abend will sich Hollande in der Sendung „Dialog mit den Bürgern“ des staatlichen Fernsehsenders France 2 erklären. Doch zwei von sechs ausgewählten Bürgern, die unangenehme Fragen hätten stellen können, wurden von dem Sender wieder ausgeladen: Eine Gewerkschafterin und ein Landwirt.
So benehmen Sie sich in Frankreich richtig
Der frühere Staatspräsident Jacques Chirac begrüßte zwar Kanzlerin Angela Merkel mit Handkuss. Doch ist der längst aus der Mode. Wer eine Dame besser kennt, begrüßt sie mit je einem angedeuteten Kuss links und rechts auf die Wangen. Aber bitte nie beim
Erstkontakt!
Wer mit der Tür ins Haus fällt, gilt als unhöflich. Wer nur Stärken präsentiert, fällt eher unangenehm auf. Geben Sie ruhig mal Fehler zu. Das gilt hier als Tugend. Wichtiger ist, diplomatisch zu bleiben und das Gesicht des anderen zu wahren. Offener Streit wird immer vermieden.
Bei manchen Einladungen wird die Kleiderordnung angegeben. „Tenue de soirée“ bedeutet Abendgarderobe, also dunkler Anzug und Krawatte beziehungsweise Abendkleid. Bei „Tenue de ville“ wird ein legerer Anzug beziehungsweise Kostüm erwartet. Die Krawatte
kann dabei wegbleiben.
Sollten nie abgelehnt werden. Fauxpas! Bei Zeitmangel kann man aber auf ein Bistro ausweichen. Nach wie vor wird in Frankreich vieles beim Essen verhandelt.
Selbst bei offiziellen Anlässen ist eine Krawatte nicht zwingend. Besucher bei Staatspräsident Nicolas Sarkozy erschienen auch schon mal mit offenem Hemdkragen. Ein Anzug oder eine Kombination sind allerdings ein Muss.
Bei privaten Einladungen ist es üblich, der Dame des Hauses einen Blumenstrauß oder Pralinés mitzubringen. Die Blumen sollten nicht ausgepackt werden, weil die oft kunstvolle Verpackung Teil des Präsents ist.
Gegenüber Damen ist man(n) in Frankreich stets Kavalier, hält ihr die Tür auf und hilft in den Mantel. Im Restaurant werden Frauen grundsätzlich zuerst bedient. Erst wenn allen Damen serviert ist, sind die Herren dran. Und erst wenn alle etwas haben, wird mit
dem Essen begonnen.
Ein Dessert nach dem Essen ist kein Muss, dafür wird meist Kaffee getrunken. Es kann auch ein Deca (ohne Koffein) oder eine Tisane (Kräutertee) sein. Übrigens: Erst danach wechselt das Gespräch zum Geschäftlichen. Nie vorher!
Lautes Zuprosten und Anstoßen gilt als unfein. Üblich ist allein, das Glas zu erheben und ein Anstoßen anzudeuten.
Getrennte Rechnungen kennt man in Frankreich nicht. Einer zahlt stets für alle am Tisch. Als Trinkgeld werden ein paar Münzen liegen gelassen – aber ohne Kommentar à la „Stimmt so“. Die Franzosen geben weniger Trinkgeld als die Deutschen. Zehn Prozent sind
schon das Maximum.
Nie selbst einen Tisch ansteuern! Richtig: Warten bis der Ober einen anspricht und zum Tisch führt. Sein Vorschlag darf allerdings abgelehnt und ein anderer Tisch gewünscht werden.
Ist zwecklos. Bei Franzosen ist in Meetings alles offen – und möglich. Manche Entscheidung fällt gar während der Kaffeepause.
Zu Geschäftsessen ist Wein üblich, sollte aber in Maßen getrunken werden. Ein Glas reicht. Nach dem Hauptgang wird der Wein wieder abgeräumt.
Ist in Frankreich ein dehnbarer Begriff, Veranstaltungen beginnen selten pünktlich.
Es ist genau dieses ohnmächtige Gefühl, nicht gehört zu werden, das die Menschen allabendlich nun zusammenführt, in Paris und in kleineren Grüppchen auch in anderen französischen Städten. „Es ist der Versuch, wieder zu einer Politisierung zu kommen, aber nicht mit den bestehenden Formen der Politik,“ sagt Claire Demesmay, Frankreich-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. „Es geht um Partizipation, die Sehnsucht nach Zusammenhalt, nach einem verloren gegangenen Wir-Gefühl.“ Vielleicht wird man nichts erreichen, aber zumindest trifft man für ein paar Stunden auf Gleichgesinnte und hat dazu noch ein wenig Spaß.
Auch von den Konservativen erhoffen sich viele Franzosen nichts mehr. 65 Prozent der Befragten geben in einer Blitzstudie an, Ex-Staatschef Nicolas Sarkozy hätte es nicht besser gemacht, wäre er 2012 wiedergewählt worden. Abgesehen davon, dass in der Ära Sarkozy ebenfalls Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung anschwollen, wollen außer ihm inzwischen gut ein Dutzend weitere Mitglieder der Republikaner bei Vorwahlen um das Mandat kämpfen, für ihre Partei bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten. Ein einheitliches Konzept sieht anders aus.
Auf dem Weg zur politischen Formation?
Der parteilose Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hat gerade seine Bewegung „En Marche!“(„In Bewegung!“) gegründet, mit der er um Mitstreiter „von links und von rechts“ wirbt, um Frankreich von „Blockaden“ zu befreien. Ob die die Bewegung ihm helfen soll, selbst Präsident zu werden, ist noch nicht klar.
Ob aus den „Aufrechten“ eine politische Formation entstehen kann? Ähnlich wie Podemos in Spanien, die sich aus der Bewegung der Empörten über die Sparpolitik nach dem Platzen der Immobilienblase formierte? Kopfschütteln auf der Place de la République. Auch wenn einige sich durchaus bewusst sind, dass sie das bestehende „System“ damit kaum verändern werden. „Angesichts der großen Meinungsvielfalt dort ist es wenig wahrscheinlich, dass sich Nuit Debout in eine politische Partei wandelt,“ glaubt Studentenforscher Morder.
Eines haben die jungen Leute allerdings schon erreicht. Premierminister Manuel Valls hat ihnen staatliche Hilfen für die Zeit zwischen Studienabschluss und dem Antritt einer Arbeitsstelle versprochen – und weitere Steuerstrafen für Arbeitgeber angekündigt, die befristete Verträge abschließen. Zum Ärger des Unternehmerverbands Medef, der nächste Woche seine Kampagne für einen „wahren Dialog“ starten will.
In Frankreich verfestigt sich zunehmend der Eindruck, dass kaum noch jemand Argumente anhören geschweige denn in Erwägung ziehen will, die nicht der eigenen Meinung entsprechen. Egal ob Arbeitsloser, Arbeitnehmer, Schüler, Student oder Arbeitgeber. Dieses Dilemma löst auch Nuit Debout nicht auf. Die Feindbilder sind ungeachtet aller Basisdemokratie klar definiert. Auf dem Programm zum Beispiel gestern: Ein organisierter Ausflug inklusive Pfeifkonzert beim Eintreffen des Wirtschaftsministers vor einer technischen Hochschule im Süden der Stadt. Als Arbeitgeber möchte man sich auf der Place de la République derzeit abends nicht outen.
„Sie wollen gehört werden, aber selbst nicht unbedingt hören, was andere zu sagen haben,“ bedauert Demesmay. „Da sind sie ein Produkt des Systems, das sie nicht in Frage stellen.“ So vergeuden die „Aufrechten“ vermutlich ihre größte Chance: Eine Debatte ohne Scheuklappen anzuzetteln für eine echte Erneuerung der Gesellschaft.