Eine politisch so explosive Entscheidung haben die Richter am Londoner High Court vielleicht noch nie getroffen. Premierministerin Theresa May darf Großbritannien nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni nicht einfach aus der EU führen, wenn das Parlament nicht zustimmt. Manch ein EU-Gegner sieht die britische Demokratie bereits vor dem Untergang, die Regierung ist „enttäuscht“ über den Richterspruch. Das letzte Wort in Sachen Brexit scheint noch nicht gesprochen.
Wie und wann geht es jetzt weiter, die Brexit-Verhandlungen sollten doch im März schon beginnen?
Das kann trotzdem klappen, aber sicher ist es nicht. Eine Regierungssprecherin sagte am Donnerstag, man habe „nicht vor, sich davon vom Zeitplan abbringen“ zu lassen. Am Freitag telefoniert May mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Am Montag will die Regierung ihre Einschätzung dem Parlament vortragen, May selbst ist auf Reisen. Das Berufungsgericht wird sich voraussichtlich Anfang Dezember mit dem Fall befassen und Anfang Januar entscheiden. Wenn das Parlament eine Art Brexit-Gesetz verabschieden muss, könnte das dauern.
Sind die Parlamentarier denn für oder gegen den Brexit?
Beim Referendum selbst haben die Abgeordneten natürlich geheim abgestimmt, aber öffentlich waren die meisten für den Verbleib in der EU. Die britische Nachrichtenagentur PA hatte eine Umfrage gemacht, in der von 650 Parlamentariern 480 sagten, sie seien gegen den Brexit. Allerdings hält es zum Beispiel die Denkfabrik Open Europe für sehr wahrscheinlich, dass die Abgeordneten sich nun grundsätzlich an das Ergebnis des Referendums gebunden fühlen - für die zweite Kammer, das Oberhaus, gilt das auch.
Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum
Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit (Austritt). Im Juni 2012 schrieb das britische Magazin "Economist" erstmals von der Möglichkeit eines "Brixit". Danach etablierte sich in der Presse die Version "Brexit". Vorbild dieser Wortschöpfung war der Begriff "Grexit", der sich auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise etablierte. Gemeint war damit aber nur das - mögliche - Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.
Die Abstimmung wurde den Wählern von Premier David Cameron versprochen - seine Tory-Partei war damit in den Wahlkampf zur Unterhauswahl 2015 gezogen. Cameron, der selbst für die EU-Mitgliedschaft eintritt, wollte parteiinternen EU-Skeptikern damit den Wind aus den Segeln nehmen. Schon seit Jahren gab es parteiintern die Forderung nach einer Befragung des Volkes zum Verbleib in der EU. Die Unzufriedenheit mit der Zuwanderungspolitik der europäischen Partner bestärkte viele Briten in ihrer Ablehnung gegenüber der EU. Der Kampagne war ein Machtkampf mit der Europäischen Union voraus gegangen. Bereits 2011 hatte Cameron seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt verweigert und kurz darauf mit einem Veto zur mittelfristigen Finanzplanung der EU gedroht. In harten Verhandlungen rang Cameron den europäischen Partnern Zugeständnisse ab, etwa beim für den Finanzplatz London so wichtigen Thema der Bankenregulierung.
Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass die EU für Großbritannien als drittgrößter Nettozahler ein Verlustgeschäft sei. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle über die Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme - Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU außerdem für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und fordern die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.
Die Anhänger des EU-Verbleibs warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde der Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge wäre eine Rezession.
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 07.00 Uhr morgens bis 22.00 Uhr britischer Zeit geöffnet - also von 08.00 bis 23.00 Uhr deutscher Zeit. Nur in Gibraltar schließen die Wahllokale wegen der Zeitverschiebung eine Stunde früher. Danach beginnt die Auszählung. Nach bisherigem Stand wird es nach Schließung der Wahllokale weder Prognosen noch Hochrechnungen geben. Im Laufe der Nacht werden aber die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken nach und nach bekannt werden. Die meisten Resultate dürften zwischen 03.00 und 05.00 Uhr deutscher Zeit vorliegen. Ein Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet - wenn es nicht wegen Pannen zu Verzögerungen kommt.
Wieso ärgern sich die Brexit-Befürworter dann so?
Offiziell fürchten sie um die britische Demokratie. Dahinter steht aber die Befürchtung, dass die EU-Freunde im Feilschen um den Austritt ihre Vorstellungen durchsetzen könnten - etwa, dass Freizügigkeit wichtiger ist als die volle Kontrolle über die eigenen Grenzen. Man spricht auch von „hartem“ und „weichem“ Brexit.
Ist schon ganz sicher, dass das Parlament entscheiden wird?
Nein. Die Regierung hat angekündigt, gegen das Urteil beim Supreme Court vorzugehen. Eine höhere Instanz gibt es in Großbritannien nicht. Britische Rechtsexperten sagen, es könnte sein, dass die Richter des höchsten britischen Gerichts das erste Urteil bestätigen. Weil es um die Auslegung von Artikel 50 des EU-Vertrags geht, könnte der Supreme Court das Problem sogar dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorlegen.
Hätte Theresa May wissen können, dass das Hohe Gericht so entscheidet?
Es war klar, dass es so kommen kann, ja. Die Regierung ist aber weiterhin davon überzeigt, dass sie nicht nur moralisch, sondern auch juristisch Recht hat. Das Argument: Das Parlament hat entschieden, das Volk über den Brexit abstimmen zu lassen. Es sei immer klar gewesen, dass ein „No“ zur EU dann auch den Ausstieg bedeute. May glaubte deswegen, sie könne das „königliche Vorrecht“ („royal prerogative“) nutzen, das im Vereinigten Königreich längst nicht mehr dem Monarchen zusteht, sondern der Regierung.
Was sagen EU und Bundesregierung dazu?
Erst mal wenig, schließlich ist nicht ganz klar, was das alles bedeutet. Diesen Freitag trifft der britische Außenminister Boris Johnson in Berlin seinen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier (SPD). Der geht nicht von einer Verzögerung der Brexit-Verhandlungen aus: „Ich denke, wir dürfen erwarten, dass das Anfang des Jahres stattfindet.“