Wichtiger als konkrete sozialpolitische Veränderungen ist Juncker und der gesamten Kommission die metapolitische Botschaft: „Die europäische Säule der Sozialen Rechte ist Teil der Bemühungen, einen neuen Angleichungsprozess in der Wirtschafts- und Währungsunion zu starten.“ Kurz gesagt: Die Kommission will angesichts der tiefen Krise der EU ihre eigene Handlungsfähigkeit angesichts ihrer inneren Feinde, „Populisten“ genannt, demonstrieren. Doch Experten sind ausgesprochen skeptisch.
„Der EU wird oft vorgeworfen, sie sei der Büttel einer herzlosen, unsozialen Globalisierung. Es ist also verständlich, dass Juncker versucht, auf diese Anfeindungen eine Antwort zu geben“, sagt Jan Techau von der American Academy in Berlin. „Ob es aber sinnvoll und aussichtsreich ist, Sozialpolitik auf die europäische Ebene zu heben, ist sehr fraglich. Es gibt dafür kein richtiges Mandat im europäischen Vertragswerk. Vor allem aber liegen die sozialpolitischen Vorstellungen in den Mitgliedsstaaten sehr weit auseinander. Es wird sehr schwierig sein, da einen gemeinsamen Nenner zu finden.“
„Der Vorschlag der Juncker-Kommission sollte vor dem Hintergrund der Stichwahl in Frankreich gesehen werden“, glaubt Matthias Dauner vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg. „Mit dieser Charme-Offensive will die EU-Kommission zeigen, dass die EU mehr als nur Austeritätspolitik sein kann. Allerdings sollte man deshalb von den Vorschlägen auch nicht zu viel erwarten. Die juristischen Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik sind begrenzt, weshalb der Rat den Vorschlägen nicht ohne weiteres folgen wird. Streit ist damit vorprogrammiert.“
Roland Freudenstein vom Wilfred Martens Centre for European Studies kann dem gesamten Vorhaben nicht viel Gutes abgewinnen. Da sich die Kommission weitgehend auf das Setzen von gemeinsamen Standards beschränke, die nicht juristisch gegen die Mitgliedstaaten durchsetzbar sind, werden diese de facto nicht viel unternehmen. Sowenig wie sie die Forderungen der so genannten Lissabon-Agenda von 2001 zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit umsetzten.