Für ihre Finanzierung werden früher oder später neue europäische Steuern erhoben werden müssen. In der Zwischenzeit kann der Bedarf teilweise durch die Mobilisierung von nicht in Anspruch genommenen Kreditlinien bereits bestehender EU-Finanzinstrumente gedeckt werden – der Einrichtung zur Zahlungsbilanzhilfe („Balance-of-Payments Assistance“), des Makrofinanzhilfe-Programms und des Europäischen Finanzstabilitätsmechanismus (EFSM). In diesen Instrumenten sind zusammengenommen mehr als 50 Milliarden Euro nicht in Anspruch genommener Mittel verfügbar. Diese Einrichtungen müssten umgenutzt werden und ihre Mandate erweitert werden, was auf nennenswerten Widerstand stoßen wird, doch diese Zahlen verdeutlichen die ungenutzte finanzielle Kapazität der Europäischen Union.
Auf dem Höhepunkt der Eurokrise konnten Mitgliedsstaaten die politische Entschlossenheit aufbringen, unverzüglich ein Instrumentarium zu schaffen, welches in erheblichem Maß die Finanzkraft der EU vergrößerte. Der EFSM, der dann zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde, erhöhte die Kreditaufnahmekapazität der EU auf etwa 500 Milliarden Euro in gerade mal einem Jahr und bewies somit, dass es einen Weg gibt, wenn ein Wille da ist. Doch all diese Instrumente sind mit drei Beschränkungen konfrontiert: Sie sind zumeist zwischenstaatlich und sind auf Garantien der Mitgliedsstaaten angewiesen statt auf den EU-Haushalt, der zu klein bleibt für eine derart hohe Anleihe; sie benötigen einstimmige Ermächtigung durch die Mitgliedsstaaten; und sie sind im Wesentlichen dafür konzipiert, anderen Mitgliedsstaaten Geld zu leihen, weniger um wirkliche Ausgaben im Namen der EU zu motivieren.
Der einzige Weg ist, „Bündnisse der Willigen“ zu bilden, die keine einstimmige Zustimmung erfordern.
Diese Initiativen könnten tiefgreifendere Reformen des EU-Haushalts anregen. Daher fühlte ich mich im vergangenen Jahr sehr ermutigt, als Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble eine gesamteuropäische Benzinsteuer vorschlug. Ich war jedoch bald darauf desillusioniert, als er ausdrücklich davor warnte, die weitgehend ungenutzte Kreditfähigkeit der Europäischen Union nutzbar zu machen.
Das bloße Fortbestehen der Europäischen Union steht auf dem Spiel. Es ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit und der Pflichtverletzung, den Zerfall der EU zuzulassen, ohne ihre gesamten finanziellen Ressourcen zu nutzen. Durch die Geschichte hindurch haben Regierungen als Reaktion auf nationale Notlagen Schuldverschreibungen ausgegeben. Wann sollte die Europäische Union ihre weitgehend unausgeschöpfte Kreditfähigkeit nutzen, wenn nicht zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich in Lebensgefahr befindet? Dies zu tun hätte zusätzlich den Vorteil eines dringend benötigten wirtschaftlichen Impulses. Angesichts von Zinssätzen auf historischen Tiefständen ist derzeit ein besonders günstiger Zeitpunkt für eine solche Neuverschuldung.
Viertens: Die Krise muss dazu genutzt werden, gemeinsame europäische Mechanismen für den Schutz von Grenzen, die Prüfung von Asylanträgen und die Umsiedelung von Flüchtlingen zu schaffen. Bescheidene Fortschritte sind auf dem Weg: Im vergangenen Monat wurden vom Europäischen Parlament Rechtsvorschriften für den Aufbau der „European Border and Coast Guard“ (EBCG) beschlossen. Doch die Dublin-III-Verordnung – Grundlage für die Festlegung, welcher Staat die Verantwortung für Abwicklung und Aufnahme von Asylsuchenden trägt – verhindert durch die Belastung des Ersteintrittsstaats Solidarität unter EU-Mitgliedsstaaten; über sie muss neu verhandelt werden.
Eine europäische Lösung entsteht derzeit vor Ort in Griechenland, wo das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) de facto die Asylanträge untersucht, um die überforderten griechischen Behörden zu unterstützen. Ein einheitliches europäisches Asylverfahren würde die Anreize für Asylshopping beseitigen und das Vertrauen unter den Mitgliedsstaaten wieder stärken.
Fünftens: Sobald Flüchtlinge anerkannt sind, muss es einen Mechanisms geben, um sie auf vereinbarte Art und Weise innerhalb Europas umzusiedeln. Für die EU wird es unabdingbar, die Durchführung ihrer totgeborenen Neuansiedlungs- und Umsiedlungsprogramme grundlegend zu überdenken; ein zaghafter Schritt in diese Richtung wurde in der vergangenen Woche durch neue Vorschläge der Europäischen Kommission unternommen. Die Union darf weder Mitgliedsstaaten noch Flüchtlinge zur Teilnahme an diesen Programmen nötigen. Sie müssen auf Freiwilligkeit beruhen; ein übereinstimmendes System könnte Präferenzen sowohl von den Flüchtlingen als auch von den Aufnahmegemeinschaften eruieren, damit Menschen am Ende dort landen, wo sie sein wollen und wo sie willkommen sind. Das EASO hat begonnen, ein übereinstimmendes System zu entwickeln.