Wirtschaftswoche Online: Herr Patzelt, das Europäische Parlament konstituiert sich am Dienstag. Wer hat die Macht im Haus – und in Europa?
Werner Patzelt: Das Europäische Parlament lässt weder durch die europäischen Staatschefs noch durch die Medien beeinflussen. Für letzteres fehlt schlichtweg eine europäisch-mediale Öffentlichkeit. Das Parlament ist in seinen Entscheidungen frei – und steigert seinen Einfluss von Jahr zu Jahr. Dabei haben sich die Machtverhältnisse im Europäischen Parlament durch die Wahl im Mai nicht dramatisch verändert: Es haben Volkspartei und Sozialdemokraten weiterhin die klare Mehrheit.
Rechtsaußen-Parteien, etwa der Front National in Frankreich und die PVV von Geert Wilders in den Niederlanden, haben bei den Wahlen viele Stimmen eingesammelt. Sie sind aber mit dem Versuch gescheitert, eine Fraktion zu bilden. Wieso?
Es reicht nicht, einfach nur ein Gegner der europäischen Integration oder der Europäischen Union zu sein, um hinlänglich viele Schnittmengen zu haben, die für eine Fraktionsbildung ausreichen. Für die Abgeordneten jener Parteien ist das freilich bitter, weil der Zugang zu Positionen und Ressourcen des Europäischen Parlamentes nun einmal über Fraktionen führt. Für jene, die eine stabile europäische Einigung befürworten, ist das Fehlen einer solchen Fraktion hingegen Grund zur Freude.
Zur Person
Er ist Gründungsprofessor des Dresdner Instituts für Politikwissenschaft und hat den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden seit 1991 inne. In seiner Freizeit ist er Chorleiter und spielt als Kammermusiker Violoncello.
Wie bewerten Sie die Zusammensetzung der EVP, jener konservativen Fraktion, der auch die CDU und CSU angehören - und möglicherweise auch wieder die umstrittene ungarische Partei Fidesz von Viktor Orbán?
Parlamente brauchen Fraktionen, denn ohne sind sie nicht handlungsfähig. In Nationalstaaten könnten nur Parteien Fraktionen bilden, die nicht miteinander konkurrieren. In einem multinationalen Parlament ist die Sache anders: Da muss man sich einigen, welcher Parteifamilie eine Partei angehört. Und da ist es wie im richtigen Leben: Nicht jedes Familienmitglied gefällt. Aber wenn man ein Familienmitglied schneidet, bleibt es trotzdem Teil einer Familie. Vermutlich ist es dann besser, sich innerhalb der Familie zu vertragen und zu versuchen, störendes Benehmen zu verbessern. Im Klartext: Jene, denen die Orbán-Partei nicht gefällt, haben mit den Kollegen von dieser Partei über deren missfallende Züge zu reden, während ‚Ausschließeritis‘ zu praktizieren in der Regel wenig bessern wird.
Das ist Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker ist ein Veteran auf dem Europa-Parkett. Als er im Dezember 2013 nach 18 Jahren aus dem Amt des Premierministers im Großherzogtum Luxemburg schied, war der Christsoziale der seit langem dienstälteste Regierungschef in der Europäischen Union.
Kurz nach Ende seines Jurastudiums war Juncker als 28-Jähriger Mitglied der Regierung geworden - und geblieben, bis Liberale, Sozialdemokraten und Grüne mit vereinten Kräften schließlich eine Anti-Juncker-Koalition schmiedeten. Von 2005 bis 2013 war er auch Vorsitzender der Eurogruppe, der die Finanzminister der Staaten mit Euro-Währung angehören.
Juncker gilt als Europäer aus Leidenschaft. Als Sohn eines in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiven Bergwerkspolizisten und als Bürger eines einst von deutschen Soldaten besetzten Landes sieht er die EU als wichtiges Friedensprojekt und als Garanten für sozialen Ausgleich. Er ist ein intimer Kenner der internen Abläufe und Befindlichkeiten innerhalb der EU und war sowohl einer der „Erfinder“ als auch Krisenmanager des Euro.
Was die einen als Vorteil sehen, erscheint anderen als Nachteil: Für den ehemaligen britischen Premierminister David Cameron und andere Kritiker ist Juncker die Verkörperung einer „alten“, entrückten und überregulierten EU.
Juncker hat mehrfach erklärt, er fühle sich dem Amt gesundheitlich gewachsen. Nach Äußerungen des niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem, Juncker sei „ein verstockter Raucher und Trinker“, erklärte er, er habe kein Alkoholproblem.
Macht aber nicht gerade diese Zusammenarbeit rechte Parteien salonfähig?
Wenn man verhindern will, dass die Menschen sehr rechte Parteien wählen, dann muss eine Partei der rechten Mitte ihnen ein Politik- und Personalangebot machen, das es unnötig macht, noch rechtere Parteien zu wählen. Anders gewendet: Wer innerhalb einer relativ vernünftigen Partei und Fraktion keine rechten Positionen zu vertreten erlaubt, der muss sich nicht wundern, wenn rechts von ihm eine viel rechtere und wenig willkommene Partei entsteht. Das gilt übrigens für den linken politischen Rand ebenso.
Haben die Euro-Kritiker mit der Wahl vom Mai ihren Zenit überschritten – oder erwarten Sie einen weiteren Anstieg der Zustimmung für EU-skeptische Positionen?
Europakritisch zu sein, ist zunächst einmal nichts Schlechtes, weil ja Kritik nichts Schlechtes ist. Ein Europagegner zu sein, ist hingegen Ausdruck politischen Torheit. Und zwischen diesen beiden Polen vollzieht sich eben konkrete Europapolitik. Dabei scheint es, als hätten die politischen Eliten Europas zu wenig Gedanken um die Sichtweisen der europäischen Bevölkerungen gemacht, als sie den Einigungsprozess immer weiter vorantrieben. Der designierte Kommissionspräsident hat es einmal auf eine für Demokraten wenig erfreuliche Formel gebracht: Europapolitik betreiben heiße, möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit voranzugehen. Vor diesem Hintergrund meint Europakritik dann eben, dass man sich den Kurs der EU nicht einfach mehr von politischen Eliten vorgeben lassen will. Das aber ist nicht nur zulässig, sondern auch sinnvoll – und hat viel mit Demokratie zu tun. Sollten die europäischen Eliten weiterhin den EU-Bürgern Anlass geben, auf reiner Selbstermächtigung beruhendes Handeln zu empfinden, wird es mit europakritischen, europaskeptischen, ja auch mit europafeindlichen Parteien weiter aufwärtsgehen.