Der mit Spannung erwartete EU-Gipfel stieß das Tor zu einer Vergemeinschaftung von Schulden in Europa zunächst nur für die Banken auf. Aber die gemeinsame Verantwortung der EU-Staaten nimmt mit den Beschlüssen zu Bankenrefinanzierung und Wachstumspakt wieder ein Stück zu. Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel zuvor so deutlich wie nie zuvor gemacht, wo für Deutschland die roten Linien bei der Euro-Rettung verlaufen. „Gemeinsame Haftung kann erst dann stattfinden, wenn ausreichende Kontrolle gesichert ist“, sagte Merkel.
Ein Schuldentilgungsfonds, wie ihn die fünf Wirtschaftsweisen vorschlagen, sowie Euro-Bonds oder Euro-Bills, wie sie die Krisenländer penetrant fordern, um Deutschland für ihre Schulden mit in Haft zu nehmen, würden in Deutschland auch „verfassungsrechtlich nicht gehen“, so Merkel. Damit bestätigte die Kanzlerin, was sie vergangene Woche schon vor der FDP-Fraktion gesagt hatte. Ein Vergemeinschaften von Schulden werde es in der EU nicht geben „solange ich lebe“.
Gemeinsame Haftung eingebettet in eine politische Union
Jetzt darf gewettet werden, wie die Kanzlerin die roten Linien halten kann oder wann sie doch noch überschritten werden. Denn der Druck auf Deutschland, zur Rettung des Euro das Portemonnaie ganz weit zu öffnen, steigt täglich. Vor allem aus Brüssel. Beim EU-Gipfel am vergangenen Donnerstag präsentierten EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, ein Konzept, das Europa in ein neues Zeitalter katapultieren soll. Eine Fiskal- und Bankenunion soll alle Länder zu einer Haftungsgemeinschaft zusammenschweißen. Eingebettet in eine politische Union, sollen die Nationalstaaten wichtige Kompetenzen – vor allem in der Finanz- und Haushaltspolitik – an Brüssel abgeben.
Die Blaupause lieferte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Europa, so räsonierte er unlängst, brauche eine Fiskalunion mit einem europäischen Finanzminister, der den Nationalstaaten diktiert, wann sie welche Steuern zu erhöhen beziehungsweise Ausgaben zu senken haben, damit ihr Haushalt wieder in Ordnung kommt. Die EU-Kommission müsse zu einer Euro-Regierung aufgewertet und von einem Präsidenten geleitet werden, den das Volk direkt wählt. Das EU-Parlament, so Schäuble, soll das Recht erhalten, Gesetze auf den Weg zu bringen und müsse durch eine Länderkammer nach dem Vorbild des Bundesrats ergänzt werden.
Die Instrumente zur Euro-Rettung
Pro: Mit einer gemeinsamen Einlagensicherung und mit einem EU-weiten Sicherheitsnetz für Europas Banken könnte zwei bedrohlichen Szenarien vorgebeugt werden: einem Bank-run, bei dem die Sparer panisch ihre Einlagen von der Bank abheben. Und der Gefahr, dass nationale Auffangfonds nicht ausreichen, um nationale Banken zu stützen.
Contra: Gesunde Banken, allen voran in Deutschland, müssten im Ernstfall für ihre maroden Konkurrenten in anderen Euroländern zahlen. Außerdem gibt es noch keine effiziente europäische Bankenaufsicht. Damit gelten für die Banken noch unterschiedliche Voraussetzungen - und es besteht keine Möglichkeit, die Geldhäuser zu kontrollieren und Abwicklungen und Restrukturierungen zu erzwingen.
Wahrscheinlichkeit: nur vorhanden, wenn es vorher eine effiziente europäische Bankenaufsicht gibt. Das soll die Europäische Zentralbank übernehmen. Wenn dazu eine überzeugende Einigung gelingt: 60 Prozent.
Pro: Mit direkter Bankenhilfe aus dem ESM oder von der EZB wären Krisenländer wie Spanien ihr größtes Problem los: dass nämlich Notkredite der Europartner die Schuldenlast das Staatshaushaltes und damit die Pleitegefahr deutlich erhöhen. Der Rettungsfonds könnte den Banken direkt Sicherheiten zur Verfügung stellen, mit denen diese das notwendige Geld zur Rekapitalisierung aufnehmen. Im besten Fall verdient der ESM daran, weil er das Geld billiger aufnimmt als verleiht.
Contra: Bei direkter Bankenhilfe hätten die Euroländern keine Möglichkeit, Gegenleistungen von den Regierungen zu erzwingen. Zudem wäre nicht garantiert, dass die Banken die Unterstützung zurückzahlen, wenn kein Staat dahinter steht. Unklar ist überdies, wie Auflagen für die Banken selbst durchgesetzt werden sollten.
Wahrscheinlichkeit: Siehe BANKEN-UNION: ohne eine effiziente europäische Bankenaufsicht gleich null. Nach Aufbau einer europäischen Aufsicht: 70 Prozent.
Pro: Dahinter verbirgt sich die Idee gemeinsamer Staatsanleihen, die von den Ländern der Eurozone ausgegeben würden. Ihr Reiz läge darin, dass alle Staaten zusammen für die Rückzahlung haften und sich so gegenseitig Rückendeckung geben. Dadurch könnten selbst von den Anlegern geschmähte Euro-Sorgenkinder wie Spanien, Italien und Griechenland wieder zu günstigeren Zinsen an frisches Geld kommen - und so ihre schwächelnde Konjunktur ankurbeln. Befürworter wie Frankreich hoffen, dass damit der Teufelskreis aus steigenden Staatsschulden und höheren Zinsen ein für alle Mal durchbrochen und ein abschreckendes Signal an Spekulanten ausgesendet wird.
Contra: Vergleichsweise solide haushaltende Staaten wie Deutschland, dessen Bundesanleihen bei Investoren als sicherer Hafen gelten und deshalb ein historisches Zinstief erreicht haben, müssten bei der Ausgabe gemeinsamer Euro-Bonds wieder höhere Renditen in Kauf nehmen - und somit Milliarden draufzahlen. Gegner monieren zudem fehlende Reformanreize für hoch verschuldete Staaten, weil großzügige Ausgabenpolitik die eigene Bonität nicht mehr direkt beeinträchtigen würden. Sie lehnen auch eine gesamtschuldnerische Haftung ab - denn beim Ausfall eines Schuldners müsste das Kollektiv, also Deutschland wie jedes andere Land, komplett für dessen Verbindlichkeiten haften.
Wahrscheinlichkeit: tendiert auf absehbare gegen Null Prozent, wegen des vehementen Widerstands der Bundesrepublik und anderer Nordländer.
Pro: Euro-Bills sollen die Kritiker der Euro-Bonds beschwichtigen, weil sie eine kürzere Laufzeit haben und in der Summe begrenzt wären. Mit ihrer Hilfe dürfte sich jeder Staat nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz seiner Wirtschaftsleistung finanzieren. Wer die damit verbundenen Haushaltsregeln nicht einhält, würde im Folgejahr vom Handel mit den Papieren ausgeschlossen. Die Idee wurde in EU-Kreisen als Kompromiss lanciert, weil sich vor allem Berlin stoisch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruft, das eine in Dauer und Höhe unbegrenzte Schuldenübernahme untersagt.
Contra: In Diplomatenkreisen werden die Euro-Bills als kleine Brüder der Euro-Bonds belächelt. Das erhoffte überwältigende Signal an Märkte und Spekulanten, dass Wetten gegen Euro-Staaten zum Scheitern verdammt sind, wären sie jedenfalls nicht mehr. Da Volumen und Laufzeit begrenzt sind, stellt sich zudem die Frage, ob sie die Nöte hoch verschuldeter Euro-Sorgenkinder unter steigendem Zinsdruck überhaupt effektiv zu lindern.
Wahrscheinlichkeit: 10 Prozent, weil Euro-Bills weder für die Befürworter noch für die Gegner gemeinschaftlicher Staatsanleihen die erhoffte Lösung wären.
Pro: Mit einem Schuldentilgungsfonds, wie ihn die fünf deutschen Wirtschaftsweisen vorgeschlagen haben, würden nur nationale Verbindlichkeiten jenseits von 60 Prozent gemeinschaftlich und zu niedrigen Zinsen bedient - also erst über der Marke, die der EU-Stabilitätspakt gerade noch zulässt. Bis zu dieser roten Linie müssten die Länder weiterhin alleine für ihre Schulden gerade stehen, andere Euro-Staaten also nicht für die gesamte Schuldensumme ihrer europäischen Partner haften. Der zu gründende Fonds würde sich selbst an den Finanzmärkten refinanzieren und dort über eine kollektive Haftung aller Mitgliedstaaten abgesichert.
Contra: Während neben der SPD und den Grünen zuletzt auch das Europäische Parlament und der Internationale Währungsfonds Sympathien für diese Lösung bekundet haben, hegt die Bundesregierung verfassungsrechtliche Zweifel. Koalitionspolitiker sehen in ihr den Einstieg in die Vergemeinschaftung von Schulden, wie sie die No-Bailout-Klausel der europäischen Verträge verbiete. Die Bundesbank empfindet schon die Bezeichnung "Schuldentilgungspakt" als missverständlich, weil damit keine harten Einsparauflagen und Überschüsse zur Rückzahlung der Staatsschulden einhergingen.
Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent, da der Tilgungsfonds letztlich zwar ebenfalls die Übernahme fremder Schulden bedeutet, allerdings zu einem geringeren Umfang als bei Euro-Bonds oder Euro-Bills.
Pro: Mit der Ausgabe dieser Projektanleihen sollen in der EU bis Ende 2013 Privatinvestitionen von rund 4,5 Milliarden Euro mobilisiert werden. Dafür stünden in einer Pilotphase zwar nur 230 Millionen Euro aus dem EU-Budget zur Verfügung, Brüssel hofft jedoch auf einen 20-fachen Hebelfaktor: Mit der Europäischen Union im Rücken sollen Investoren kreditwürdiger erscheinen, dadurch an billigeres Geld kommen und so grenzüberschreitende Verkehrs- oder Energieprojekte finanzieren. Es bestünde also die Hoffnung, mit relativ geringem Risiko einen beachtlichen Effekt zu erzielen.
Contra: Skeptiker halten dem entgegen, dass sich für ökonomisch sinnvolle Projekte meist auch ohne staatliche Hilfe Privatinvestoren finden. Außerdem gebe es bislang lediglich eine Hand voll konkreter Vorhaben, die zudem nicht alle besonders ausgereift konzipiert seien.
Wahrscheinlichkeit: 95 Prozent, da eine informelle Einigung bereits Ende Mai erzielt wurde und die einzusetzenden Mittel in einem günstigen Verhältnis zum erhofften Nutzen stünden.
In Brüssel betört der deutsche Finanzminister mit seinen Visionen offene Ohren. Denn den Brüsseler Eurokraten ist die nationale Kleinstaaterei auf dem Kontinent seit Langem ein Dorn im Auge. Um diese zu überwinden, wollen sie möglichst viele Politikbereiche europäisieren. Ihr Fernziel: die Vereinigten Staaten von Europa.
Doch der Weg dorthin ist nicht nur mit hohen rechtlichen Hürden verbunden. In Deutschland wäre wohl die Verabschiedung einer neuen Verfassung durch eine Volksabstimmung nötig. Ein europäischer Superstaat käme Deutschland zudem teuer zu stehen. Denn er institutionalisierte, wogegen sich die Deutschen bisher mit Händen und Füßen gewehrt haben – die allumfassende Transferunion.
Mit Banken- und Fiskalunion zum neuen Europa
Dass Europas Politiker so vehement mehr Europa, mehr Integration und mehr Solidarität fordern, ist darauf zurückzuführen, dass die Rettungspakete und Liquiditätsspritzen, mit denen sie die Krise bisher bekämpft haben, verpufft sind. Ihre schmerzstillende Wirkung hielt nur wenige Wochen, dann brach der Krisen-Virus wieder durch.
In ihrer Not ziehen die Regierungen jetzt den letzten Trumpf aus dem Ärmel. Eine politische Union soll der Währungsunion ein Dach geben, das sie vor den Gewittern der Finanzmärkte schützt. Die zentralen Stützpfeiler des neuen Gebäudes: eine Banken- und eine Fiskalunion.
Hinter dem simpel klingenden Begriff Bankenunion verbirgt sich ein weitreichender Umbau des Finanzsystems, über dessen Einzelheiten noch keine Klarheit besteht. Dabei hängt es von den Details der neuen Konstruktion ab, ob sie tatsächlich mehr Stabilität in den Finanzsektor bringt. Denn manche verstehen unter Bankenunion nur eine gemeinsame Aufsicht, andere auch die Haftung der nationalen Einlagensicherungsfonds für die Geldhäuser der Nachbarn.
Noch ist offen, welche Banken auf europäischer Ebene beaufsichtigt werden sollen. Am liebsten hätten die EU-Aufseher Zugriff auf alle Institute. „Es sind nicht immer nur die großen, systemischen Banken, die Probleme hervorrufen“, sagt EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier. Doch jede Bank und jede Sparkasse einer EU-Aufsicht zu unterstellen ist illusorisch. Beschränkt man sich daher auf die größten Häuser, ist die genaue Zahl entscheidend. „Ob man 30, 50 oder 100 auswählt, ist die Hälfte der Geschichte“, urteilt Guntram Wolff vom Brüsseler Thinktank Bruegel.
Wolff hat gemeinsam mit seinen Kollegen Jean Pisani-Ferry, André Sapir und Nicolas Véron ein 20 Seiten langes Grundsatzpapier zur Bankenunion geschrieben, mit dem sich Beamte der Finanzministerien in Berlin und Paris seit einigen Tagen beschäftigen. Resümee der Bruegel-Experten: Die Bankenunion „muss sehr sorgfältig entworfen werden“.
Beschränkte sich die Aufsicht auf große, systemrelevante Banken, wären Länder wie Frankreich fast komplett erfasst, deren Bankensystem fast nur aus großen Einheiten besteht (siehe Grafik Seite 24). Portugal und Irland wären dagegen nicht betroffen. Das erhöht die Gefahr von Verzerrungen, weil nationale Aufseher anders als die europäischen agieren könnten. Ein weiteres Problem: Großbritannien hat bereits klargestellt, sich nicht an der Bankenunion zu beteiligen. Damit entzöge sich der wichtigste Finanzplatz der EU der gemeinsamen Aufsicht. Europa wäre zweigeteilt.
Voraussetzung für eine Bankenunion wäre zudem, dass alle Banken auf Herz und Nieren geprüft werden. „Man müsste einen richtigen Stresstest abhalten“, sagt Bruegel-Ökonom Wolff. Doch die bisherigen Stresstests haben jedes Mal einen Teil der Wahrheit verschleiert. Und das lange Zögern Spaniens, Hilfe für seine maroden Banken zu beantragen, zeigt, wie die Politik die wahren Zustände im Finanzsektor gerne vertuscht. Auch die Regierung in Zypern erweckt nicht den Eindruck, mit offenen Karten zu spielen.
Völlig unklar bleibt, welche Behörde eine Bank abwickeln dürfte, wenn sie nicht mehr lebensfähig ist. Eine solch elementare Ermächtigung – immerhin geht es um einen massiven Eingriff in Eigentumsrechte – müsste zuvor von den nationalen Parlamenten abgesegnet werden.
Irrweg gemeinsamer Einlagensicherung
Heikler noch als die Aufsicht ist das Konzept einer gemeinsamen Einlagensicherung und eines einheitlichen Abwicklungsfonds. Die Idee stamme von Leuten, „die an die Fleischtöpfe wollen“, schimpft Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands deutscher Banken. Er geißelt die Bankenunion insgesamt als „Irrweg“. Die deutschen Privatbanken äußern sich bisher nicht zum Umfang ihrer Einlagensicherung und Notfonds. Aber sie fühlen große Begehrlichkeiten.
Doch die entscheidende Frage einer Bankenunion ist: Wie will man verhindern, dass Banken hemmungslos zocken, wenn sie wissen, dass entweder die Geldhäuser oder die Steuerzahler anderer Länder für ihre Einlagen aufkommen? Die Summen, um die es geht, sind schon jetzt schwindelerregend. Ende vergangenen Jahres beliefen sich die Bankenschulden in Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien auf 9,2 Billionen Euro. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt hingegen macht nur 2,5 Billionen Euro aus. „Deutschland würde sich mit Garantieerklärungen gewaltig überheben“, warnt daher Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner ifo Instituts.
Ebenso problematisch wie eine Bankenunion ist eine Fiskalunion. In ihr müssten die Steuerzahler der soliden Länder für die Schulden der verantwortungslos wirtschaftenden Regierungen in den Krisenländern bluten. Zwar hat die Bundeskanzlerin Euro-Bonds eine Absage erteilt. Was aber, wenn bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr SPD und Grüne den Sieg davontragen? Die Genossen und die Ökopaxe sind bekanntermaßen Freunde der Schuldensozialisierung.
Für Deutschland wird es dann richtig teuer. Wegen des im Vergleich zu Bundesanleihen höheren Ausfallrisikos würde sich der Zins für Euro-Bonds deutlich oberhalb des Zinses für Bundesanleihen einpendeln. Berechnungen des ifo Instituts zeigen, dass sich die Mehrkosten für den deutschen Staatshaushalt langfristig auf rund 50 Milliarden Euro pro Jahr belaufen, wenn erst mal alle deutschen Außenstände auf teurere Gemeinschaftsanleihen umgeschuldet sind. Das macht mehr als 600 Euro für jeden Bundesbürger.
Langfristig dürften die Belastungen sogar noch höher ausfallen, da die Krisenländer durch Euro-Bonds Anreize erhielten, mehr statt weniger Kredite aufzunehmen. Die Schuldenspirale drehte sich immer schneller, die Euro-Zone triebe auf den kollektiven Staatsbankrott zu.
Um das zu verhindern, müsste das Ausgabengebaren der Euro-Länder durch eine zentrale Instanz, den Euro-Finanzminister, kontrolliert werden. Ein derart weitreichender Eingriff in das nationale Haushaltsrecht aber wäre durch die Verfassungen der meisten Länder nicht mehr gedeckt. Sie müssten geändert werden, in vielen Ländern wären dafür Volksabstimmungen nötig.
So auch in Deutschland. Nicht umsonst hat Finanzminister Schäuble vergangene » » Woche eine Volksabstimmung ins Gespräch gebracht. „Noch vor ein paar Monaten hätte ich gesagt: In fünf Jahren? Nie im Leben!“, so der Minister. „Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Nur für zwei Fälle sieht das Grundgesetz Volksabstimmungen vor. Der eine Fall ist die Neugliederung von Bundesländern, der andere die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung. Dazu heißt es in Artikel 146: „Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Geschützte Kernbereiche im Grundgesetz
Eine solche neue Verfassung wäre nötig, um eine EU-Aufsicht über den deutschen Staatshaushalt auf den Weg zu bringen. Das ergibt sich aus der Ewigkeitsklausel des Grundgesetztes, die in Artikel 79 verankert ist. Sie schützt nicht nur die Regelungen in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes, sondern wirkt auch auf weitere Vorschriften.
Dazu zählt neben individuellen Grundrechten auch der Kernbereich der staatlichen Souveränität. In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 hat das Bundesverfassungsgericht umrissen, was es darunter versteht. Neben dem Strafrecht und dem staatlichen Gewaltmonopol erwähnen die Richter das Budgetrecht des Parlaments. Die Grenzen des Grundgesetzes würden verletzt, „wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde“. Gleiches gilt für die Ausgaben des Staates.
Nun spekulieren Juristen und Politiker, ob die Verfassungsrichter im Lichte der Euro-Krise von ihrer damaligen Sichtweise abweichen könnten. „Die Entscheidung stammt aus einer Zeit, als die jetzt diskutierten Maßnahmen noch nicht zur Debatte standen“, gibt Oliver Sauer vom Centrum für Europäische Politik an der Uni Freiburg zu bedenken.
Sowohl in ihren Entscheidungen als auch in Interviews haben die Richter vor allem einen Trend benannt, den sie unterbinden wollen: die Verselbstständigung der europäischen Institutionen. In keinem Fall dürften diese in eine Lage kommen, in der sie von sich aus immer mehr Kompetenzen an sich ziehen. Dasselbe gelte für finanzielle Ermächtigungen. „Ich persönlich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich den Weg zu einem europäischen Bundesstaat für den richtigen halte“, sagte Andreas Voßkuhle, der Präsident des Verfassungsgerichts, in einem Interview im Mai. „Es wäre nur fatal, wenn ein solcher Bundesstaat ohne demokratische Rückanbindung und ohne die entsprechenden Institutionen auf europäischer Ebene sozusagen schleichend etabliert würde.“
Will die Bundesregierung die Hoheit über den Bundeshaushalt nach Europa abgeben, müsste also eine neue Verfassung her. Das Grundgesetz selbst sieht für diesen Fall zwar keine konkreten Regeln vor. In der Geschichte sind jedoch zumeist zwei Modelle zur Anwendung gekommen. Eine Variante wäre, dass ein Gremium die Verfassung ausarbeitet und sie anschließend dem Volk zur Abstimmung vorlegt. Die zweite, dass das Volk die Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung wählt und diese dann die neue Verfassung erarbeiten und beschließen. Über den Inhalt der Verfassung würde dann nicht mehr abgestimmt.
Vielleicht geht es Finanzminister Schäuble aber auch gar nicht um eine neue Verfassung, sondern um etwas mehr Legitimation für die anstehenden Schritte. Um die herzustellen, müsste die Regierung einen bundesweiten Volksentscheid schaffen. In Artikel 20 heißt es, das Volk übe seine Staatsgewalt unter anderem „in Wahlen und Abstimmungen“ aus. Einige Juristen interpretieren dies als Grundlage für die Schaffung eines einfachen Gesetzes über Volksabstimmungen, andere halten eine Verfassungsänderung für notwendig. Die neue Regelung könnte dann zum Beispiel vorsehen, dass jede Verfassungsänderung, wie in Frankreich oder der Schweiz üblich, zuerst dem Volk vorgelegt werden müsste.
Auftrieb für die Euro-Skeptiker
Doch um in allen Ländern die juristischen Hürden auf dem Weg zu einer politischen Union zu überwinden, wären wohl mehrere Jahre, wenn nicht gar ein ganzes Jahrzehnt nötig. Eine schnelle Lösung für die aktuelle Krise ist das nicht. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen den Ausbau der Euro-Zone zu einer politischen Union ausspricht.
Denn die milliardenschweren Rettungspakete für die Krisenländer haben den Europa-Skeptikern Auftrieb gegeben. Eine aktuelle Meinungsumfrage des amerikanischen Pew-Forschungszentrums zeigt, dass die Mehrheit der Bürger auf dem alten Kontinent keine Lust auf „mehr Europa“ hat. In keinem Land nannte eine Mehrheit der Befragten den Euro eine gute Sache. Nur die mit vertrauenswürdigen Politikern nicht gerade reichlich gesegneten Italiener waren bereit, Europa bei der Kontrolle des nationalen Haushalts mehr Einfluss zu gewähren.
Für die Nordländer wäre eine politische Union mit einer gemeinsamen Finanzpolitik hingegen ein schlechter Deal. Sie hätten in dieser Union nicht mehr viel zu melden. Denn die Südländer werden darauf bestehen, dass in allen wichtigen Gremien der politischen Union – wie schon im Zentralbankrat der EZB – nach dem Prinzip „Ein Land, eine Stimme“ entschieden wird. Der Süden hätte damit eine klare Mehrheit gegenüber den Ländern aus dem Norden – und würde diese permanent überstimmen. Die Transferunion wäre perfekt.
Vor diesem Hintergrund mutet die Hoffnung naiv an, Europa könne mittelfristig zu einem Bundesstaat oder gar zu einer europäischen Nation nach dem Vorbild der USA zusammenwachsen. In Amerika hatten sich die einzelnen Staaten nach langen Widerständen 1790 entschlossen, ihre Schulden zusammenzulegen. Der damalige Finanzminister Alexander Hamilton erkaufte sich die Zustimmung der zunächst widerstrebenden Südstaaten, indem er ihnen die Hauptstadt Washington D. C. anbot, direkt vor den Toren Virginias.
Entscheidend für die politische Akzeptanz der US-Schuldenunion bei den Bürgern aber war, dass die hohen Außenstände der Bundesstaaten nicht etwa das Ergebnis regionaler Verschwendungssucht waren, sondern die Folge des gemeinsamen Freiheitskampfes gegen die Kolonialmacht Großbritannien. Der Sieg gegen die Briten schweißte die Amerikaner zusammen – und gab den Startschuss für die Bildung der Nation.
„In Europa fehlen solche gemeinsamen Mythen, jedes Land hat seine eigene Geschichte und Kultur“, sagt Kai Carstensen, Konjunkturchef des ifo Instituts. Die Hoffnung, aus den Nationen auf dem alten Kontinent könnten auf absehbare Zeit die Vereinigten Staaten von Europa werden, hält Carstensen daher für abwegig. „Europa ist nur unsere zweite Haut“, sagt der ifo-Ökonom.
Dazu trägt auch die Vielzahl an Sprachen bei, die die Kommunikation zwischen Politikern und Bürgern über Ländergrenzen hinweg erschwert. Wie will ein Euro-Innenminister aus Portugal seine Botschaften bei den Bürgern der Niederlande an den Mann bringen? Die Folge: Es gibt auf dem alten Kontinent keine europäische Öffentlichkeit für politische Debatten.
Ist die Zentralisierung erst einmal eingeleitet, entwickelt sie einen sich selbst verstärkenden Sog. Das hatte schon der Finanzwissenschaftler Johannes Popitz erkannt, nach dem das Popitzsche Gesetz benannt ist. Die untergeordneten Gebietskörperschaften bluten aus und werden langfristig zu Empfängern von Finanzzuweisungen der Zentrale. Deutsche Länder und Kommunen sind ein Beispiel dafür.
Eine politische Union würde Europas Gesicht dramatisch verändern. Ob bei Steuern, Sozialleistungen oder Bildung – in vielen Politikbereichen träten zentrale Einheitslösungen an die Stelle von Vielfalt. Koordination würde Wettbewerb ersetzen, zentrale Direktiven die Freiheit beschränken. Es dürfte dann nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die Bürger endgültig von Europa abwenden.