Pro: Zuwanderungsdebatte Auch der Zuzug in die Sozialsysteme muss möglich sein

Der Staat darf Zuwanderern aus der EU, die ohne Job in die Bundesrepublik kommen, Hilfe nicht pauschal verweigern. So will es Brüssel. Und das ist auch gut so.

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Der Deutschland-Trend zeigt: Rund zwei Drittel wollen „mehr Europa“. Doch wer es gut meint mit der europäischen Einigung, sollte auf eine Art Europa-Moratorium setzen.

Das Timing ist sicher ungünstig. Seit Wochen tobt in Deutschland eine Diskussion um Armutszuwanderung. Vor allem die CSU warnt vor Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien, die offenbar nur wegen der hohen Sozialstütze kommen. Und in Europa wird im Mai das neue Parlament in Straßburg gewählt. Just in dem bevorstehenden Wahlkampf hält die EU-Kommission das deutsche Sozialsystem also nun für rechtswidrig: Der Staat darf Zuwanderern aus der EU, die ohne Job in die Bundesrepublik kommen, Hilfe nicht pauschal verweigern. Parteien aus dem rechten Spektrum wird das Wählerstimmen zuspielen. So viel ist klar.

Vor diesen Problemen stehen die Zuwanderer
Teilnehmer eines Kurses "Deutsch als Fremdsprache" Quelle: dpa
Eine Asylbewerberin wartet in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung in Berlin Quelle: dpa
Eine Frau sitzt in einem Flüchtlingsheim in einem Zimmer Quelle: dpa
Ein Flüchtling sitzt vor einer Gemeinschaftsunterkunft der Asylbewerber Quelle: dpa
Verschiedene Lebensmittel liegen in der Asylunterkunft in Böbrach (Bayern) in Körben Quelle: dpa

Doch die Diskussion und den Zuzug auch der sozial Schwachen nach Deutschland muss die Republik aushalten. Wer Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union propagiert, darf nicht nur die Sonnenseiten genießen wollen. Er muss auch die Schattenseiten akzeptieren. Und das heißt: Es kommen nicht nur die hochqualifizierten Ärzte, Ingenieure und Krankenschwestern nach Deutschland, sondern auch Ungebildete.

Doch wer A sagt, muss auch B sagen. Die EU ist eine großartige soziale und politische Errungenschaft. Der Binnenmarkt ohne Grenzen und Zollschranken hat das Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent angekurbelt – davon haben insbesondere deutsche Unternehmen profitiert. Das Schengener Abkommen hat den Bürgern Reisefreiheit geschenkt – das genießen jedes Jahr Millionen Deutsche. Jeder darf wohnen und arbeiten, wo er möchte – auch Deutsche haben ihrer Heimat deswegen Lebewohl gesagt. Die Freischaltung der Sozialsysteme für Zugezogene ist nur der letzte Schritt und die logische Konsequenz eines vereinten Europas.

Ausländer in Deutschland

Insofern ist die Stellungnahme der Kommission in Brüssel nur richtig und konsequent. Die EU-Juristen bemängelten laut „Süddeutsche Zeitung“, dass ein Jobcenter in Leipzig den Antrag einer Rumänin, die mit ihrem kleinen Sohn bei ihrer Schwester lebte, pauschal ablehnte. Einen generellen Ausschluss dürfe es aber nicht geben. Es müsse jeder Einzelfall geprüft werden. Die Kommission betont damit zurecht das europarechtliche Gebot, dass EU-Bürger in der gesamten Union gleich behandelt werden sollen. Ein Rumäne ist eben nicht weniger wert als ein Deutscher, nur weil er Sozialleistungen in Duisburg beantragt. Wer als Deutscher auf Mallorca arbeitet, möchte auch so behandelt werden wie sein spanischer Nachbar, wenn er auf Sozialleistungen angewiesen ist.

Vereinigtes Europa

Diese Nationen wollen nach Deutschland
Die Krise in Südeuropa und die EU-Osterweiterung haben Deutschland die stärkste Zuwanderung seit 1995 gebracht. Rund 1,08 Millionen Menschen zogen im vergangenen Jahr zu und damit so viele wie zuletzt vor 17 Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr betrug das Plus noch einmal 13 Prozent, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Etwa 966.000 Zuwanderer waren den vorläufigen Ergebnissen zufolge Ausländer (plus 15 Prozent). Die Zahl der Zuzüge von Spätaussiedlern und deutschen Rückkehrern aus dem Ausland blieb mit rund 115.000 nahezu konstant. Quelle: dpa
Einen großen Zuwachs verbuchten die deutschen Einwohnermeldeämter aus Italien: 2012 kehrten 40 Prozent mehr Italiener ihrer Heimat den Rücken um nach Deutschland zu kommen, als noch 2011. Die Zuwanderungszahlen sagen allerdings nichts darüber aus, wie lange die Menschen bleiben. So kehrten im vergangenen Jahr auch rund 712.000 Menschen Deutschland den Rücken, das waren fünf Prozent mehr als im Vorjahr. 579.000 von ihnen hatten keinen deutschen Pass. Aus den Zu- und Fortzügen ergibt sich für das Jahr 2012 ein Einwohnergewinn von 369.000 Menschen, dies ist der höchste Wert seit 1995. Quelle: dpa
Auch aus den krisengebeutelten Ländern Portugal und Griechenland kommen immer mehr Menschen ins vergleichsweise wohlsituierte Deutschland. Aus beiden Ländern sind die Einwandererzahlen im vergangenen Jahr um 43 Prozent gestiegen. Quelle: dpa
Auch die Zahl der Spanier, die nach Deutschland auswanderten, ist 2012 um 45 Prozent angestiegen. Somit gab es im vergangenen Jahr besonders starke Zuwächse aus den südeuropäischen EU-Krisenstaaten. Drei Viertel der Ausländer, die nach Deutschland kamen, zog es in fünf Bundesländer: Das Gros ging nach Bayern (192.000), gefolgt von Nordrhein-Westfalen (186.000), Baden-Württemberg (171.000), Hessen (90.000) und Niedersachsen (89.000). Quelle: dpa
Aus den osteuropäischen Ländern, die erst seit 2004 oder 2007 zur EU gehören, kamen ebenfalls mehr Menschen nach Deutschland als im Vorjahr. Besonders stark war der prozentuale Zuwachs aus Slowenien (62 Prozent). Quelle: dapd
Allerdings kamen die meisten Zuwanderer weder aus Slowenien noch aus Südeuropa. Mit 59.000 Einwanderern stellte Bulgarien die drittgrößte Gruppe. Quelle: dpa
Seit dem 1. Januar 2007 ist Rumänien ein Mitglied der EU. Die Einwohner des Landes nutzen die europaweite Freizügigkeit: 2012 kamen 116.000 Rumänen nach Deutschland. Damit machen sie die zweitgrößte Einwanderungsgruppe aus. Quelle: dpa

Die EU denkt das Thema Freizügigkeit damit konsequent zu Ende. So wie es innerhalb Deutschlands keine Rolle spielt, ob ein Brandenburger Hartz IV in Bayern beantragt, wenn er denn inzwischen dort wohnt, wird es auch in Zukunft immer weniger eine Rolle spielen, aus welchem EU-Land der Antragsteller kommt. Das mag sich irgendwie komisch anfühlen, das mag Ängste vor Überfremdung schüren, aber das ändert nichts an der Realität. Schon heute ist Deutschland ein Einwandererland. Und Europa entwickelt sich zu einem Vereinigten Europa – und das ist gut so.

Wer nun Angst vor einem Zustrom von schlecht integrierbaren Rumänen und Bulgaren hat, dem sei gesagt, dass dies Deutschland aushalten muss und kann. Hiesige Unternehmen brauchen Fachkräfte. Man kann aber nicht die gut Ausgebildeten ins Land lassen und den Unerwünschten den Beitritt verwehren. Das wäre ein Zurück in die Nationalstaaterei. Zudem sind in der Vergangenheit ohnehin vor allem jene gekommen, die gut ausgebildet sind. Und jene ohne Berufsausbildung kommen auch nicht nach Deutschland, weil sie alle als Schmarotzer die Sozialkassen plündern wollen, sondern weil sie Beschäftigung suchen. Sie arbeiten vor allem dort, wo die Deutschen immer weniger hin wollen: als Putzkraft, auf dem Bau, als Schrott-Schlepper und Handlanger bei Entrümpelungen.

Natürlich gilt es, den Missbrauch zu vermeiden. Doch das gelingt nicht, indem man Antragsteller pauschal ablehnt, sondern indem man die Gesetze anwendet, die heute schon gelten. Vor allem die Scheinselbstständigkeit macht Probleme. Rumänen und Bulgaren melden sich beim Gewerbeamt als Unternehmer an und sind anschließend automatisch Hartz-IV-berechtigt. Viele arbeiten aber als Putzkraft oder auf dem Bau für nur ein Unternehmen. Sie sind also scheinselbstständig. Der Missbrauch wird damit vor allem von den (deutschen) Unternehmen initiiert, die Sozialversicherungsbeiträge sparen wollen und die Kräfte als Billiglöhner abspeisen wollen. Bei Juristen kursiert bereits der Begriff des „Arbeiter-Strichs“: Zuwanderer bieten morgens ihre Arbeit an und lassen sich mit Kleinbussen zu den Baustellen fahren.

Wer darf in Deutschland arbeiten?

Der Missbrauch von Scheinfirmen und Subunternehmern könnte aber problemlos minimiert werden, wenn die Jobcenter vehementer einschreiten würden, sobald bei ihnen Hartz-IV-Leistungen beantragt werden. Bei Verdacht der Scheinselbstständigkeit könnten sie die Rentenversicherung und das Hauptzollamt einschalten. Dann müsste die Baufirma Sozialbeiträge und Lohn nachzahlen. Außerdem könnten die Arbeitsvermittler die Baufirma bei der Staatsanwaltschaft anzeigen. Das deutsche Recht macht es den Jobcentern sogar relativ einfach, einen möglichen Betrug zu erkennen. Wer Hartz-IV beantragt, muss laut dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert „selbst an der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken“. Er muss die Gewerbeanmeldung, die selbst geschriebenen Rechnungen und die Subunternehmerverträge vorlegen. „Wenn da immer derselbe Name eines Geschäftspartners auftaucht, muss das im Jobcenter doch jemanden auffallen.“

Deutschland braucht Zuwanderung

Die beliebtesten Länder bei Einwanderern
Platz 10: Spanien6,5 Millionen Einwanderer leben im Jahr 2013 in Spanien. Im Jahr 2000 waren es erst zwei Millionen. Quelle: AP
Platz 9: AustralienNach Down Under verschlug es genauso viele Menschen. Auch hier leben aktuell 6,5 Millionen Einwanderer. Aufgrund der geringeren Einwohnerzahl ist ihr Anteil an der Bevölkerung mit 27,7 Prozent aber wesentlich höher als in Spanien (13,8 Prozent). 30.000 sind Flüchtlinge. Quelle: dpa
Platz 8: KanadaIn Kanada leben 7,3 Millionen Migranten, dazu zählen rund 163.700 Flüchtlinge. Insgesamt machen Einwanderer 20,7 Prozent der Bevölkerung aus. Quelle: AP
Platz 7: Frankreich7,4 Millionen Menschen aus dem Ausland leben 2013 in Frankreich, davon rund 218.000 Flüchtlinge. Einwanderer machen 11,6 Prozent der Bevölkerung aus. Innerhalb der Top Ten sind sie am ältesten, das Durchschnittsalter beträgt rund 48 Jahre. Quelle: REUTERS
Platz 6: GroßbritannienIn Großbritannien machen Migranten 12,4 Prozent der Bevölkerung aus. Insgesamt kommen sie auf 7,8 Millionen Menschen, davon rund 150.000 Flüchtlinge. Quelle: dpa/dpaweb
Platz 5: Vereinigte Arabische EmirateEbenfalls 7,8 Millionen Einwanderer leben in den Vereinigten Arabischen Emiraten - doch hier machen sie sage und schreibe 83,7 Prozent der Bevölkerung aus. Flüchtlinge sind mit rund 600 Personen hier jedoch genauso selten anzutreffen... Quelle: REUTERS
Platz 4: Saudi Arabien...wie in Saudi Arabien. Hier leben 9 Millionen Migranten, die 31 Prozent an der Bevölkerung ausmachen. Mit durchschnittlich 31 Jahren in Saudi Arabien und 30 Jahren in den Emiraten leben in der Region auch die jüngsten Einwanderer innerhalb der Top Ten. Quelle: AP

Deutschland braucht Zuwanderung. Inzwischen leben hierzulande mehr als sieben Millionen Ausländer. Die Quote liegt damit bei 9,2 Prozent. Studien belegen, dass Ausländer mehr in die Sozialkassen einzahlen als sie heraus bekommen. Wie sähe das geburtenschwache Deutschland heute eigentlich aus, wenn Zuwanderung vor vielen Jahren zurückgedrängt worden wäre? Die Horrorszenarien vor überbordener Einwanderung aus Osteuropa wird ebenfalls überzeichnet.

Natürlich gibt es auch Probleme. In Stadtteilen wie Berlin-Neukölln liegt der Ausländeranteil bei 40 Prozent. Inzwischen leben dort 5.000 Bulgaren und Rumänen. Und es werden weitere nachziehen. Doch sie greifen nicht alle in die Sozialkasse, sondern verrichten auch harte Jobs. Der Staat muss daher Lösungen erarbeiten, wie auch diese Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden können und muss einer Getthoisierung entgegen wirken.

Der Europäische Gerichtshof wird bald ein Urteil fällen. Experten halten Einschränkungen beim Anspruchserwerb von Hartz IV für wahrscheinlich. Zumindest für eine Übergangszeit. Langfristig werden die Sozialkassen allen EU-Bürgern offen stehen müssen – zumindest wenn man Europa weiter denkt. Das erhöht zweifelslos den Druck auf die deutschen Standards. Möglicherweise werden nationale Mindeststandards dadurch sogar nach unten angepasst.

Aber das muss ja auch nicht notwendigerweise ein Übel sein. Zur Erinnerung: Erst durch Korrektur der Sozialleistungen im Rahmen der Agenda 2010 wurde Deutschland so erfolgreich wie es heute ist.

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