Das Timing ist sicher ungünstig. Seit Wochen tobt in Deutschland eine Diskussion um Armutszuwanderung. Vor allem die CSU warnt vor Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien, die offenbar nur wegen der hohen Sozialstütze kommen. Und in Europa wird im Mai das neue Parlament in Straßburg gewählt. Just in dem bevorstehenden Wahlkampf hält die EU-Kommission das deutsche Sozialsystem also nun für rechtswidrig: Der Staat darf Zuwanderern aus der EU, die ohne Job in die Bundesrepublik kommen, Hilfe nicht pauschal verweigern. Parteien aus dem rechten Spektrum wird das Wählerstimmen zuspielen. So viel ist klar.
Doch die Diskussion und den Zuzug auch der sozial Schwachen nach Deutschland muss die Republik aushalten. Wer Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union propagiert, darf nicht nur die Sonnenseiten genießen wollen. Er muss auch die Schattenseiten akzeptieren. Und das heißt: Es kommen nicht nur die hochqualifizierten Ärzte, Ingenieure und Krankenschwestern nach Deutschland, sondern auch Ungebildete.
Doch wer A sagt, muss auch B sagen. Die EU ist eine großartige soziale und politische Errungenschaft. Der Binnenmarkt ohne Grenzen und Zollschranken hat das Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent angekurbelt – davon haben insbesondere deutsche Unternehmen profitiert. Das Schengener Abkommen hat den Bürgern Reisefreiheit geschenkt – das genießen jedes Jahr Millionen Deutsche. Jeder darf wohnen und arbeiten, wo er möchte – auch Deutsche haben ihrer Heimat deswegen Lebewohl gesagt. Die Freischaltung der Sozialsysteme für Zugezogene ist nur der letzte Schritt und die logische Konsequenz eines vereinten Europas.
Ausländer in Deutschland
Besonders viele Ausländer kommen aus den Ländern, die 2004 der EU beigetreten sind. Die Zahl stieg gegenüber 2011 um 15,5 Prozent. Spitzenreiter ist Ungarn mit einem Plus von 29,8 Prozent, gefolgt von Polen mit +13,6 Prozent.
Die Zahl der Ausländer aus den von der Euro-Krise betroffenen Mittelmeerstaaten hat sich erhöht. Aus Griechenland sind 5,1 Prozent mehr Ausländer als im Vorjahr nach Deutschland gekommen, aus Spanien waren es 9,1 Prozent mehr Ausländer.
Die registrierte Bevölkerung mit türkischer Staatsangehörigkeit ist, ähnlich wie in den Jahren zuvor, um zwei Prozent zurückgegangen. Grund dafür ist die relativ hohe Zahl der Einbürgerungen.
Die meisten Ausländer zogen nach Bayern, das sind rund 65.900 mehr als im Jahre 2011. Den geringsten prozentualen Anstieg verzeichnet das Saarland mit einem Plus von 1,6 Prozent.
Insofern ist die Stellungnahme der Kommission in Brüssel nur richtig und konsequent. Die EU-Juristen bemängelten laut „Süddeutsche Zeitung“, dass ein Jobcenter in Leipzig den Antrag einer Rumänin, die mit ihrem kleinen Sohn bei ihrer Schwester lebte, pauschal ablehnte. Einen generellen Ausschluss dürfe es aber nicht geben. Es müsse jeder Einzelfall geprüft werden. Die Kommission betont damit zurecht das europarechtliche Gebot, dass EU-Bürger in der gesamten Union gleich behandelt werden sollen. Ein Rumäne ist eben nicht weniger wert als ein Deutscher, nur weil er Sozialleistungen in Duisburg beantragt. Wer als Deutscher auf Mallorca arbeitet, möchte auch so behandelt werden wie sein spanischer Nachbar, wenn er auf Sozialleistungen angewiesen ist.
Vereinigtes Europa
Die EU denkt das Thema Freizügigkeit damit konsequent zu Ende. So wie es innerhalb Deutschlands keine Rolle spielt, ob ein Brandenburger Hartz IV in Bayern beantragt, wenn er denn inzwischen dort wohnt, wird es auch in Zukunft immer weniger eine Rolle spielen, aus welchem EU-Land der Antragsteller kommt. Das mag sich irgendwie komisch anfühlen, das mag Ängste vor Überfremdung schüren, aber das ändert nichts an der Realität. Schon heute ist Deutschland ein Einwandererland. Und Europa entwickelt sich zu einem Vereinigten Europa – und das ist gut so.
Wer nun Angst vor einem Zustrom von schlecht integrierbaren Rumänen und Bulgaren hat, dem sei gesagt, dass dies Deutschland aushalten muss und kann. Hiesige Unternehmen brauchen Fachkräfte. Man kann aber nicht die gut Ausgebildeten ins Land lassen und den Unerwünschten den Beitritt verwehren. Das wäre ein Zurück in die Nationalstaaterei. Zudem sind in der Vergangenheit ohnehin vor allem jene gekommen, die gut ausgebildet sind. Und jene ohne Berufsausbildung kommen auch nicht nach Deutschland, weil sie alle als Schmarotzer die Sozialkassen plündern wollen, sondern weil sie Beschäftigung suchen. Sie arbeiten vor allem dort, wo die Deutschen immer weniger hin wollen: als Putzkraft, auf dem Bau, als Schrott-Schlepper und Handlanger bei Entrümpelungen.
Natürlich gilt es, den Missbrauch zu vermeiden. Doch das gelingt nicht, indem man Antragsteller pauschal ablehnt, sondern indem man die Gesetze anwendet, die heute schon gelten. Vor allem die Scheinselbstständigkeit macht Probleme. Rumänen und Bulgaren melden sich beim Gewerbeamt als Unternehmer an und sind anschließend automatisch Hartz-IV-berechtigt. Viele arbeiten aber als Putzkraft oder auf dem Bau für nur ein Unternehmen. Sie sind also scheinselbstständig. Der Missbrauch wird damit vor allem von den (deutschen) Unternehmen initiiert, die Sozialversicherungsbeiträge sparen wollen und die Kräfte als Billiglöhner abspeisen wollen. Bei Juristen kursiert bereits der Begriff des „Arbeiter-Strichs“: Zuwanderer bieten morgens ihre Arbeit an und lassen sich mit Kleinbussen zu den Baustellen fahren.
Wer darf in Deutschland arbeiten?
EU-Bürger haben im Rahmen der Freizügigkeit uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das gleiche gilt für Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz.
Für sie gilt bis zum 1. Januar 2014 noch die eingeschränkte Freizügigkeit, weshalb sie vor der Arbeitsaufnahme eine Arbeitsgenehmigung beantragen müssen. Ausnahmen: Hochschulabsolventen, die eine ihrer Qualifikation entsprechende Tätigkeit aufnehmen, und Auszubildende.
Akademiker mit anerkanntem Hochschulabschluss können seit August 2012 die „Blaue Karte EU“ erhalten. Dafür brauchen sie einen Arbeitsplatz mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 46 400 Euro. - Bei Fachkräften aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik genügt ein Jahresgehalt von mindestens 36 192 Euro. Die Bundesagentur für Arbeit muss dem Vertrag zustimmen.
Sie haben nach dem Examen 18 Monate Zeit, um sich in Deutschland einen Arbeitsplatz zu suchen. Ex-Azubis bekommen nach ihrer betrieblichen Ausbildung ein Jahr zugestanden.
Der Missbrauch von Scheinfirmen und Subunternehmern könnte aber problemlos minimiert werden, wenn die Jobcenter vehementer einschreiten würden, sobald bei ihnen Hartz-IV-Leistungen beantragt werden. Bei Verdacht der Scheinselbstständigkeit könnten sie die Rentenversicherung und das Hauptzollamt einschalten. Dann müsste die Baufirma Sozialbeiträge und Lohn nachzahlen. Außerdem könnten die Arbeitsvermittler die Baufirma bei der Staatsanwaltschaft anzeigen. Das deutsche Recht macht es den Jobcentern sogar relativ einfach, einen möglichen Betrug zu erkennen. Wer Hartz-IV beantragt, muss laut dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert „selbst an der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken“. Er muss die Gewerbeanmeldung, die selbst geschriebenen Rechnungen und die Subunternehmerverträge vorlegen. „Wenn da immer derselbe Name eines Geschäftspartners auftaucht, muss das im Jobcenter doch jemanden auffallen.“
Deutschland braucht Zuwanderung
Deutschland braucht Zuwanderung. Inzwischen leben hierzulande mehr als sieben Millionen Ausländer. Die Quote liegt damit bei 9,2 Prozent. Studien belegen, dass Ausländer mehr in die Sozialkassen einzahlen als sie heraus bekommen. Wie sähe das geburtenschwache Deutschland heute eigentlich aus, wenn Zuwanderung vor vielen Jahren zurückgedrängt worden wäre? Die Horrorszenarien vor überbordener Einwanderung aus Osteuropa wird ebenfalls überzeichnet.
Natürlich gibt es auch Probleme. In Stadtteilen wie Berlin-Neukölln liegt der Ausländeranteil bei 40 Prozent. Inzwischen leben dort 5.000 Bulgaren und Rumänen. Und es werden weitere nachziehen. Doch sie greifen nicht alle in die Sozialkasse, sondern verrichten auch harte Jobs. Der Staat muss daher Lösungen erarbeiten, wie auch diese Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden können und muss einer Getthoisierung entgegen wirken.
Der Europäische Gerichtshof wird bald ein Urteil fällen. Experten halten Einschränkungen beim Anspruchserwerb von Hartz IV für wahrscheinlich. Zumindest für eine Übergangszeit. Langfristig werden die Sozialkassen allen EU-Bürgern offen stehen müssen – zumindest wenn man Europa weiter denkt. Das erhöht zweifelslos den Druck auf die deutschen Standards. Möglicherweise werden nationale Mindeststandards dadurch sogar nach unten angepasst.
Aber das muss ja auch nicht notwendigerweise ein Übel sein. Zur Erinnerung: Erst durch Korrektur der Sozialleistungen im Rahmen der Agenda 2010 wurde Deutschland so erfolgreich wie es heute ist.