Gerade an den Erwartungen will aber die Geldpolitik verstärkt ansetzen. Der EZB ist sehr wohl bewusst, dass der Nominalzins nicht tiefer als null sinken kann. Nur unter dem Einsatz von Strafzinsen können Nominalzinsen gelegentlich ins Minus abgleiten.
Anders die Realzinsen: Sie können sehr wohl negativ werden. Definiert man den Realzins als Differenz zwischen Nominalzins und Inflationserwartungen, so besteht keynesianische Geldpolitik 3.0 fortan darin, möglichst hohe Inflationserwartungen zu wecken.
Nobelpreisträger Paul Krugman, unverdrossener Anhänger expansiver Geldpolitik, fordert, „…the central bank must credibly promise to be irresponsible”.
Eine verantwortungslose EZB soll also, statt für Preisstabilität zu sorgen, den Bürger beunruhigen, damit er schnell noch mehr ausgibt, damit die Investoren, geblendet von der Aussicht auf ein Wegschmelzen ihrer realen Schulden, investieren auf Teufel komm raus. Makroökonomische Energiewende: Die moderne Geldtheorie hat das Strohfeuer als Wärmequelle entdeckt.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Leider hat das Ganze gleich mehrere Haken. So stehen die unterschiedlichen Bedingungen im Süden und Norden von Euroland einer einheitlichen Erwartungsbildung entgegen. Denn im Süden, wo Arbeitslosigkeit herrscht oder droht, wo Immobilien zwangsversteigert werden, wo Schuldenabbau unumgänglich ist: wo sollen da hohe, inflationstreibende private und öffentliche Ausgaben herkommen?
Im Norden ist es der Sparer, der den Geldpolitikern einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Angesichts der demographischen Misere ist private Altersvorsorge das Gebot der Stunde. Pro 100 Euro Zusatzrente muss nämlich immer mehr beiseite gelegt werden, je niedriger der (Real-)Zins ausfällt. Ein 35-Jähriger, der eine monatliche Zusatzrente von 600 Euro ab dem 65. Lebensjahr anstrebt, muss bei zwei Prozent realer Verzinsung monatlich 242 Euro zur Seite legen; bei minus ein Prozent (Inflation um einen Prozentpunkt höher als Nominalzins) jedoch schon 513 Euro, mehr als das doppelte. Bereits einmal, zwischen 2000 und 2005, kam es in Deutschland trotz historisch niedriger Realzinsen zu einem Anstieg der Sparquote.
Umverteilung vom privaten Sektor zur öffentlichen Hand
Sollte die erwartete Inflation eintreten, findet eine gigantische Umverteilung von privat zu Staat statt: die Geldvermögen der Privaten werden real ebenso entwertet wie die Schulden der öffentlichen Hand. Obendrein begünstigt eine (progressive) nominalwertbasierte Besteuerung der Arbeits- und Kapitaleinkommen die öffentliche Hand.
Selbst wenn es der Notenbank gelingen sollte, Inflationserwartungen zu wecken, ist nicht gewährleistet, dass gewünschte Ausgaben auch finanziert werden. In Zeiten der Inflation wächst im Allgemeinen die Unsicherheit. Daher werden Banken erhöhte Risikoprämien in ihre Kredite einpreisen und die Kreditvergabe tendenziell drosseln.
Banken könnten stattdessen, wie jetzt schon, Vermögensgüter erwerben und die Vermögenspreise nach oben treiben. Wenn indes die Konsumentenpreise nur verhalten reagieren, würde ein wichtiger Impuls für die Unternehmer, mehr zu produzieren, wegfallen. Bei einer Inflation „mit Ansage“ reagieren die Tarifparteien und fordern höhere Löhne ein, so dass keine Mehrbeschäftigung durch niedrigere Reallöhne (gleiche Geldlöhne bei höheren Produktpreisen) zustande kommt.
Der Chefvolkswirt des IWF, Oliver Blanchard, sagte über das Spiel mit den Inflationserwartungen, dies sei alles andere als eine sichere Sache. Die Wirkung einer entfesselten keynesianischen Geldpolitik ist nicht nur höchst ungewiss, sie droht auch mehr Schaden als Nutzen anzurichten. Wie immer, wenn die Verabreichung eines Medikaments auf einer fehlerhaften Diagnose beruht.