WirtschaftsWoche: Herr Rogoff, ist die Euro-Krise überstanden?
Kenneth Rogoff: Die Situation hat sich ohne Frage stabilisiert. Schauen Sie, vor zwei Jahren haben Experten wie Paul Krugman gesagt, innerhalb weniger Wochen werde der Euro-Raum zusammenbrechen. Die Folgen wären für die Weltwirtschaft schlimmer gewesen als die Lehman-Pleite. Aber nichts dergleichen ist passiert. Europa hat viel bewegt und ein Scheitern des Euro abgewehrt. Von einem Ende der Krise kann zwar noch keine Rede sein – da reicht allein ein Blick auf die Schuldenberge und Arbeitslosenquoten in Südeuropa. Die Lage bleibt angespannt, doch Europa verdient Respekt für den bisherigen Weg.
Trotzdem gibt es insbesondere aus den USA immer wieder Kritik am Krisenmanagement Europas. Warum?
Die Euro-Krise ist eine der großen Sorgen der Weltwirtschaft. Deswegen äußern sich auch viele internationale Ökonomen und Politiker zur Situation in Europa. Ich warne davor, das Gefühl zu vermitteln, wir US-Amerikaner wüssten alles besser. Es ist einfach, heute zu sagen, dieses oder jenes Handeln nach dem Ausbruch der Krise 2010 wäre besser gewesen. Noch einmal: Die Euro-Krise ist eine große Herausforderung und Europa hat Anerkennung verdient.
Zur Person
Rogoff, 60, lehrt an der Harvard University. Von 2001 bis 2003 war er Chefökonom des Internationalen Währungsfonds.
Wer hat Anerkennung verdient: Die Nationalregierungen oder die Europäische Zentralbank?
Ohne die Unterstützung der Politik hätte die EZB niemals auf den Kapitalmärkten eingreifen können. Die Notenbank ist nicht unabhängig. Zumindest nicht finanziell. Wenn die Zentralbank Geld verliert, müssen die Regierungen für die Verluste aufkommen. Man kann also den Regierungen wie der EZB-Führung zu ihrem Mut gratulieren. Einzige Einschränkung: Ich denke, die Notenbank hätte schon früher reagiert, wenn die Regierung nicht so zögerlich gewesen wäre. Das Abwarten hat Zeit gekostet. Und Geld.
Die Ankündigung von EZB-Präsident Mario Draghi, alles zur Rettung des Euro zu tun, hat die Märkte beruhigt. Dennoch, Sie haben es gesagt, bleibt die Situation angespannt. Wieso gibt es immer noch keinen Durchbruch in der Euro-Rettung?
Weil die Schuldenlast in den Peripherie-Ländern viel zu hoch ist. Am Grundübel, die Euro-Krise ist eine Verschuldungs-Krise, hat sich nichts geändert. Die Schulden der Länder verhindern Wachstum und zerstören Jobs.
Was ist zu tun?
Ich denke, Europa sollte sich Gedanken machen, wie den betroffenen Ländern geholfen werden kann. Auch wenn es unpopulär in den Geberländern ist: Die gesamte Peripherie braucht eine Umstrukturierung der Schulden. Es gibt da eine Vielzahl von Möglichkeiten: Die Zinsen für Kredite könnten gesenkt, die Rückzahlung zeitlich verlängert – oder die Schulden gestrichen werden.
"Eine höhere Inflation hätte der Euro-Zone einiges erspart"
Sie haben eine Möglichkeit vergessen: Die Schulden könnten per Inflation gedrückt werden.
Ich habe 2008 in einem Gastkommentar vorgeschlagen, die Inflation anzuheizen, um die Schuldenlast zu senken. Eine Inflationsrate von vier oder fünf Prozent wäre für die Euro-Zone ideal gewesen und hätte den Ländern mehr Spielraum gegeben. Diese Theorie ist ja auch keine neue Erfindung. Es ist eine Legende, dass die USA und Großbritannien etwa ihre Schulden aus dem Zweiten Weltkrieg durch Wachstum finanziert haben. Das ist nicht wahr. Wachstum spielte eine Rolle, aber nicht nur. Vielmehr haben die Notenbanken die Geldmenge erhöht und Banken und Pensionsfonds wurden gezwungen, Zinsen unterhalb der Inflationsmarke anzubieten. Aber zurück zu Europa: Ich glaube, eine höhere Inflation hätte der Euro-Zone vieles erspart.
In Deutschland sieht man das traditionell anders. Hier gibt es – allein schon aufgrund der Geschichte – eine spürbare Angst vor der Geldentwertung.
Die Deutschen sollten sich viel mehr Sorgen über Deflation machen. Die Risiken einer Deflation – erste Anzeichen für dauerhaft fallende Preise in Südeuropa sollte man Ernst nehmen – sind viel größer und würden deutlich mehr Schaden anrichten, als steigende Preise. Es wird in der Euro-Zone keine große Inflation geben. Ich glaube, dass viele Menschen nicht wissen, dass die deutsche Hyperinflation von 1923 untypisch ist. Hyperinflation entsteht nicht wie damals innerhalb von wenigen Monaten, sondern langsam, über einen Zeitraum von vielen Jahren. Es gibt also viel Zeit, zu reagieren, wenn es inflationäre Tendenzen geben sollte. Aber noch mal: Die wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es gibt in diesem Punkt keinerlei Risiko.
Die Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik
Werden die Zinsen künstlich abgesenkt, so verringert sich der Reformdruck auf Regierungen und Banken, ihre Haushalte beziehungsweise Bilanzen zu verbessern.
Ein künstlich tief gehaltener Zins verhindert, dass unprofitable Investitionsprojekte also Fehlinvestitionen aufrecht und befördert werden.
Künstlich tiefe Zinsen lösen (inflationäre) Spekulationswellen aus, führen zu „Boom-and-Bust“-Zyklen: überhitzte Situationen, in denen, wenn niemand mehr bereit ist, Kredite zu finanzieren, alles in sich zusammenbricht.
Künstlich niedrig gehaltene Zinsen befördern die Schuldenwirtschaft, insbesondere die der Staaten und der Bankenindustrie.
EZB-Präsident Mario Draghi soll in einem Interview von einer „perversen Angst“ der Deutschen vor Inflation gesprochen habe. Stimmen Sie dem zu?
Die Erfahrungen mit der Geldentwertung haben die deutsche Mentalität geprägt. Die Sorgen muss man Ernst nehmen und wir müssen versuchen, die Ängste mit guten Argumenten auszuräumen. Pervers ist diese Haltung sicher nicht.
Also sollte die EZB stärker denn je ihre Gelddruckmaschine anwerfen?
Die Inflation sollte höher sein, ja, das würde helfen. Aber anders als 2008 wird es nicht reichen, die Schulden wegzuinflationieren. Dazu sind die Defizite der Staaten zu sprunghaft gestiegen. Die Option von 2008 ist größtenteils erloschen. Um die Lage heute zu verbessern, braucht es einen Mix aus Maßnahmen, etwa ein bisschen höhere Inflation, ein Umstrukturierung der Schulden und Wachstumsprogramme.
Gehört dazu auch eine Strafsteuer für Sparer, die Sie in Ihrer Studie mit Carmen Reinhart für den Internationalen Währungsfonds erwähnt haben?
Nein, das wurde falsch interpretiert. Zunächst mal sind die erwähnten Maßnahmen in der Studie eine Auflistung von Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, keine Forderungen. Zweitens haben Carmen Reinhart und ich nicht von einer grenzüberschreitenden Steuer für Sparer gesprochen. Es geht nicht darum, deutsche Kleinsparer für die Rettung Griechenlands zur Kasse zu bitten. Wir haben vielmehr den Vorschlag des IWF aufgegriffen, eine nationale Reichensteuer in den Krisenländern einzuführen.
"In Südeuropa gibt es nichts mehr zu holen"
Das müssen Sie konkretisieren.
Es geht darum, dass wohlhabende Menschen in den Krisenländern ihren Beitrag leisten, nicht mehr und nicht weniger. In Südeuropa sind viele Menschen am Rande dessen angekommen, was sie leisten können. Sie können dem Rentner, dem Arbeitslosen oder auch dem durchschnittlichen Arbeitnehmer nicht noch höhere Belastungen zumuten. Da gibt es nichts zu holen. Aber: Die Euro-Zone leidet unter einer Schuldenlast von mehr als neun Billionen Euro. Das ist leider Fakt und erfordert Maßnahmen. Eine Vermögensabgabe könnte die Schuldenlast rasch drücken – ohne den Konsum abzuwürgen oder für neue Jobverluste zu sorgen. Und: So eine Reichensteuer auf Aktien, Immobilien, Sparguthaben würde auch helfen, die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung, es gehe ungerecht zu, zu mildern.
Wie unzufrieden die Bürger sind, wird sich im Mai zeigen. Da werden die Abgeordneten für das Europäische Parlament neu gewählt.
Es wird Zeit, dass die Euro-Zone weitere Schritte unternimmt, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Es ist die große Frage, wie lange Länder mit einer Arbeitslosigkeit von 15 bis 20 Prozent politisch zu führen sind. Da wage ich keine Prognose. Ich würde mir natürlich eine rationale Antwort wünschen, anstatt einer wütenden Reaktion der Menschen bei den Wahlen. Aber zu sehr auf die Geduld der Menschen sollten die Regierungen sicher nicht vertrauen.
Griechenland versucht mit positiven Meldungen die Stimmung zu kitten. Athen erklärt, es wolle noch in diesem Jahr zurück an die Finanzmärkte.
Ich bezweifle, dass das Land selbst für ganz kurze Papiere bezahlbare Renditen bekommt. Selbst wenn, glaubt doch niemand ernsthaft, dass das Land seine Schulden aus eigener Kraft zurückzahlen kann. Nein, Griechenland braucht eine Umstrukturierung seiner Schulden. Nur wenn dem Land diese Last genommen wird, kann es wachsen und regierbar bleiben.
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