Separatismus Das Problem der Kleinstaaterei

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Im Zustand der Vorfreude

Die Unabhängigkeitsbewegungen pflegen dagegen den Mythos, dass „klein“ automatisch „gut“ bedeutet, wie es schon die alten Griechen postulierten. Der Philosoph Aristoteles forderte, Stadtstaaten sollten nicht mehr als 5040 Haushalte umfassen, weil man in größeren Einheiten einander nicht mehr persönlich kenne.

Bei den Unabhängigkeitsbewegungen der Neuzeit schwingt die fast schon naive Sehnsucht nach einer überschaubaren Gemeinschaft deutlich mit, etwa wenn die Katalanin Muriel Casals von ihrem neuen Staat spricht. „Unser Land wird nicht perfekt sein“, sagt die Vorsitzende des Vereins Òmnium, einer treibenden Kraft der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. „Aber wir leben in einem Zustand der Vorfreude, die uns hilft, besser zu sein.“

Hier die Guten, dort die Bösen: Das ist ein Muster, das sich gleichermaßen durch den spanischen und katalanischen Diskurs zieht. Gerade erst hat der Cercle Català de Negocis, ein Unternehmenszusammenschluss für die Unabhängigkeit, ein prägnantes Beispiel für derartige Schwarz-Weiß-Malerei vorgelegt. Er veröffentlichte eine Studie, nach der Katalonien nur fünf Korruptionsfälle pro eine Million Einwohner zählt – wohingegen der Rest des Landes auf zwölf kommt. Wie viel sind solche Zahlen wert, wenn gegen den früheren Regionalpräsidenten Jordi Pujol und seinen Clan fünf Verfahren wegen Bestechung, Geldwäsche und Steuerhinterziehung laufen? Der Parteifreund von Mas hat Katalonien bis 2003 insgesamt 23 Jahre offenbar wie ein Feudalherrscher regiert. Lange Zeit war er trotzdem eine Galionsfigur der Katalanen.

Das Recht auf Selbstbestimmung, das die Unabhängigkeitsbewegungen reklamieren, hört sich modern an; der Begriff Freiheit ist in Europa positiv besetzt. Dennoch haftet dem Separatismus etwas Rückwärtsgewandtes an, als könnte das Leben in kleineren Einheiten vor der Globalisierung und ihren Folgen schützen. „Wir wissen, dass manche sezessionistischen Bewegungen sich in Nostalgie üben – in der Sehnsucht nach kleineren, weniger offenen und weniger toleranten Gesellschaften“, sagt Alberto Mingardi, Direktor des liberalen italienischen Thinktanks Istituto Bruno Leoni. In einer immer komplexeren Welt verkaufen die Separatisten den Rückzug in einen überschaubaren Winkel mit selbst gezogenen Grenzen als die bessere Alternative zur chaotischen, unplanbaren Realität.

Die katalanische Autorin Margarita Rivière sieht bereits die Gefahr einer „erzwungenen Homogenität“ heraufziehen, die soziale Vielfalt ersetzen soll. Für Andersdenkende bleibe kein Platz: „Wenn man weder katalanischer Nationalist noch spanischer Nationalist ist, dann befindet man sich im Niemandsland.“

Rüder Ton

Der rüde Ton, mit dem die Auseinandersetzung in Spanien geführt wird, deutet darauf hin, dass die reflexartige Trennung einer Gesellschaft in „die“ und „wir“ den Keim für Gewalt birgt. Kataloniens Präsident Mas bezeichnete die Zentralregierung in Madrid offen als „Feinde“. Woraufhin der Sprecher der bis 2004 regierenden konservativen Zentralregierung, Miguel Ángel Rodriguez , mit „Erschießung“ drohte.

Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen sieht in der Zuschreibung einer einzigen Identität eine gefährliche Vereinfachung. „Das Auferlegen einer angeblich einzigartigen Identität gehört oft als entscheidender Bestandteil zur Kampfkunst, sektiererische Auseinandersetzungen zu schüren“, schreibt er. „Das Gefühl der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend angestachelt, zu einer mächtigen Waffe werden, mit der man anderen grausam zusetzt.“ Sen, der sich selbst als Inder, Bengali, Briten und feministischen Mann bezeichnet, schildert, wie die „solitaristische“ Identität, die Reduzierung des Individuums auf ein Merkmal, auf dem Balkan oder in Ruanda zu Massenmorden geführt hat.

Aktuell ruft keine der Separatisten-Bewegungen in Europa zu Gewalt auf, selbst die baskische Untergrundorganisation ETA hat sich zu Jahresbeginn von ihren Waffen getrennt.

Aber Gewalt beginnt im Kopf.

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