Die EZB hat die Entscheidung, wann und wie sie ihr Anleihekaufprogramm beenden will nochmal vertagt. Sie steckt in einer Zwickmühle. Im Euroraum ist die Inflation weiterhin zu niedrig, zuletzt bei 1,5 Prozent, was eigentlich für eine Fortsetzung der Niedrigzinspolitik spricht. Gleichzeitig gewinnt der wirtschaftliche Aufschwung aber an Fahrt. Bleiben Inflation und Wachstum voneinander entkoppelt, könnte die lockere Geldpolitik zu einer Überhitzung der Volkswirtschaft führen.
Zur Serie
In einer vierteiligen Serie von Gastbeiträgen stellen wir an jedem Samstag bis zu den Bundestagswahlen zentrale europapolitische Probleme vor, die auf die künftige Bundesregierung zukommen werden. Sie basieren auf Veröffentlichungen der Publikationsreihe „Europa Briefing“, welche gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung und dem Jacques Delors Institut – Berlin herausgegeben wird.
Diese und weitere Veröffentlichungen der Reihe sowie Informationen zum Kooperationsprojekt finden sie unter www.strengthentheeuro.eu.
Mario Draghi setzt dennoch seinen Kurs der niedrigen Zinsen fort. Das ist vielen in Deutschland ein Dorn im Auge. Ökonomen und Zentralbänker hierzulande betrachteten das Anleihekaufprogramm, mit dem die EZB monatlich 60 Milliarden Euro in die Finanzmärkte pumpt, als gefährlich. Viele warnen vor den Negativfolgen der „Geldschwemme“ in Form von Preisblasen auf Immobilien- und Aktienmärkten. Dabei wird meist ausgeblendet, dass die EZB nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Eurozone Politik macht. Wie gefährlich sind die niedrigen Zinsen also wirklich? Welche Ziele verfolgt die EZB mit ihrer Politik? Und wann ist der richtige Zeitpunkt für den Ausstieg?
Wann werden niedrige Zinsen zum Problem?
In Krisenzeiten senken Zentralbanken die Zinsen, um die Wirtschaftsaktivität anzukurbeln. Durch niedrigere Zinsen werden Kredite günstiger, es kann zusätzlich investiert werden. Durch die damit geschaffenen Arbeitsplätze sollten eigentlich die Löhne und mittelfristig auch die Preise steigen. Im Zuge der Eurokrise setzte dieser Mechanismus aus; die Wirtschaft im Euroraum erholte sich nur schleppend und die Inflation verharrte lange bei null Prozent. Damit lag sie weit unterhalb des Ziels der Preisstabilität von knapp zwei Prozent.
Null Prozent Inflation ist für die Wirtschaft gefährlich. Für Konsumenten sinkt der Anreiz, heute Geld auszugeben und Kaufentscheidungen werden aufgeschoben. In dieser Situation kann die ganze Volkswirtschaft ins Stocken und in eine Deflation geraten.
Mit niedrigen Zinsen will die EZB die Inflation wieder zurück auf knapp unter zwei Prozent bringen. Dieser Kurs birgt Risiken: Günstigere Kredite könnten zur Überschuldung von Haushalten und Unternehmen führen. Ohne Zinsen auf das Ersparte fällt die private Vorsorge schwer. Banken verdienen kaum noch Geld an ihrem traditionellen Kreditgeschäft und gehen deswegen größere Risiken ein.
Glossar zur Zinspolitik
Preisstabilität ist als Mandat der EZB in den Europäischen Verträgen festgeschrieben. Die EZB definiert Preisstabilität als eine jährliche Teuerungsrate von knapp unter 2 Prozent. Das Niveau gilt als wünschenswert, da es einen Sicherheitsabstand zur Deflation wahrt, ohne Ersparnisse zu schnell aufzuzehren.
Bei fallenden Preisen spricht man von Deflation. Erwartet ein Konsument, dass ein Produkt in Zukunft günstiger wird, verschiebt er seine Kaufentscheidung. Dadurch bricht die Nachfrage ein. Es entsteht ein gefährlicher Kreislauf, gegen den die Zentralbank kaum vorgehen kann.
Mit dem Leitzins legt die Zentralbank den Preis des Geldes fest. Banken können sich zu diesem Zins kurzfristig Geld bei der Zentralbank leihen. Das beeinflusst alle anderen Zinsen in der Volkswirtschaft.
In einem QE-Programm kauft eine Zentralbank Schuldscheine (Anleihen), beispielsweise von Staaten und Unternehmen in großem Umfang auf. Da sie diese Papiere nicht den Schuldnern selbst, sondern deren Gläubigern (in der Regel Banken) abkauft, spült sie so zusätzliches Geld in das Finanzsystem.
Da sich die wirtschaftliche Lage der Euroländer stark unterscheidet, gehen auch die Präferenzen für eine angemessene Geldpolitik auseinander. In Deutschland wächst die Wirtschaft und die Inflation liegt nah an der Zielmarke. Dementsprechend stehen die Nachteile der aktuellen Geldpolitik besonders im Fokus. In Italien kämpft man dagegen mit hohen Schulden und der Aufschwung steht auf wackligen Beinen. Dort werden die Risiken einer Zinsanhebung besonders stark wahrgenommen. Die EZB kann aber nur Politik für die Eurozone als Ganzes machen, also für ein fiktives Durchschnittsland.
Was tut die EZB, um die Inflation anzuheben?
In den Jahren 2013 und 2014 wurde Deflation im Euroraum zu einer konkreten Bedrohung. Im Dezember 2014 fiel die Teuerungsrate erstmals unter null Prozent. Der Leitzins lag zu diesem Zeitpunkt bereits bei null Prozent. Wie alle großen Zentralbanken griff die EZB zu geldpolitischen Sondermaßnahmen. Die wichtigste davon ist das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten, meist Quantitative Lockerung oder QE-Programm genannt.
Im QE-Programm kauft die EZB seit März 2015 Anleihen im Wert von monatlich 60 Milliarden Euro, zwischenzeitlich auch 80 Milliarden Euro. Das Programm soll noch bis mindestens Ende 2017 fortgesetzt werden. Zum Vergleich: Der deutsche Verteidigungshaushalt für 2017 beträgt etwa 37 Milliarden Euro. Durch den Aufkauf dieser Anleihen schafft die Zentralbank eine enorme Nachfrage für Schuldtitel. Dadurch wird es für Banken attraktiv, mehr Kredite zu günstigeren Konditionen an Unternehmen und Haushalte zu vergeben. Die Investitionen, die mit den Krediten finanziert werden, schaffen Wachstum und Inflation.
Es gibt einige Anzeichen für die Wirksamkeit des QE-Programms: Kredite für Unternehmen und Privatpersonen wurden günstiger und die Arbeitslosigkeit im Euroraum sank. Trotz dieser Entwicklungen ist die Teuerungsrate weiterhin auf zu niedrigem Niveau. Die Wachstumsraten unterschieden sich außerdem von Land zu Land stark.
Für den begrenzten Erfolg der EZB-Politik gibt es mehrere Gründe: In vielen Euroländern kämpfen Banken und Unternehmen immer noch damit, Schulden und faule Kredite abzubauen, die sich vor und während der Finanzkrise aufgetürmt haben. Gleichzeitig verhindern geringe Wachstumsperspektiven, dass Unternehmen genügend investieren. Der europäische Binnenmarkt ist außerdem für eine Währungsunion nicht ausreichend integriert. Beispielsweise sind große Bereiche des Dienstleistungssektors immer noch auf nationale Märkte beschränkt.
Worauf setzt die EZB?
Die EZB hofft, dass sich der derzeitige Widerspruch zwischen schwacher Inflation und solidem Wachstum bald auflöst und der Aufschwung stärker auf die Löhne durchschlägt. Ist ein solcher Trend in den Statistiken erkennbar, kann sie sich auch aus dem QE-Programm zurückziehen.
Geldpolitik der EZB
Die EZB setzt ihre ultralockere Geldpolitik unverändert fort: Der Leitzins bleibt bei null Prozent. Monatlich kauft die Notenbank weiter Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Milliardenumfang. Basierend auf den aktuellen Daten halte der EZB-Rat die expansive Geldpolitik nach wie vor für angemessen, begründete Draghi. Immerhin sagt Europas oberster Währungshüter, dass die Notenbank derzeit keine Notwendigkeit sehe, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen - etwa über neue Langfristkredite für Banken.
Die EZB strebt für den Euroraum eine Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent an - weit genug von der Nulllinie entfernt. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft im gemeinsamen Währungsraum robust um 1,7 Prozent. Im Februar 2017 dann knackte die Teuerung erstmals seit vier Jahren wieder die Marke von zwei Prozent - die von den Währungshütern angepeilten Ziele scheinen erreicht. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den 19 Ländern des gemeinsamen Währungsraumes groß. „Die EZB hat einen Auftrag für den Euroraum insgesamt, und darauf muss sie ihre Geldpolitik ausrichten“, sagte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing dem „Handelsblatt“.
Hauptgrund für den Anstieg der Inflation ist ein kräftiger Sprung der Energiepreise. Ökonomen rechnen damit, dass der Höhepunkt zunächst erreicht ist. „In den nächsten Monaten dürfte die Inflationshysterie wieder etwas nachlassen“, erklärt die Commerzbank. Wichtig ist für die Währungshüter eine nachhaltige Entwicklung der Verbraucherpreise. Dabei haben sie auch die Kerninflation im Blick - also die Teuerung ohne stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Im Februar verharrte diese Rate bei vergleichsweise niedrigen 0,9 Prozent.
„Der große Belastungstest steht vermutlich am 7. Mai an, wenn die Stichwahl darüber entscheidet, ob mit Marine Le Pen eine erklärte Euro-Feindin französische Präsidentin wird“, erläutern Ökonomen der Landesbank Helaba. Solange dies nicht geklärt sei, dürfte EZB-Präsident Draghi keine geldpolitische Kursänderung zulassen. Ähnlich sieht das ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sollte sich die politische Unsicherheit nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich legen, könnte die Notenbank im Sommer Hinweise auf einen Ausstieg im Jahr 2018 geben. „Dieses Timing könnte helfen, das EZB-Bashing im beginnenden Wahlkampf in Deutschland zu dämpfen“, sagt Brzeski.
Das dürfte noch eine Weile dauern. Draghi bekräftigte erneut, dass die Zinsen auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden - mindestens bis zum Auslaufen der Anleihekäufe Ende 2017. Für Sparer ist das Zinstief bei steigender Inflation bitter. Sparbuch und Co. werfen ohnehin kaum noch etwas ab. Solange die Teuerungsrate nahe der Nulllinie dümpelte, glich sich das in etwa aus. Bei steigenden Verbraucherpreisen bleibt Sparern unter dem Strich aber weniger Geld.
Alle, die Kredite aufnehmen, zum Beispiel Immobilienkäufer. Auch wenn die Zinsen wieder leicht steigen, sind Hypothekenkredite immer noch günstig. Die ultralockere Geldpolitik kommt auch dem deutschen Fiskus zugute, weil er sich günstig verschulden kann. „Wären die Zinsen auf dem Niveau des Jahres 2007 geblieben, hätte der deutsche Staat über die Zeit um rund 250 Milliarden Euro höhere Zinsausgaben stemmen müssen“, rechnete Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor.
Die EZB kann nicht von heute auf morgen einfach den Geldhahn zudrehen. Das würde zu schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten führen. Um den Markt vorzubereiten, müssten die Währungshüter das Auslaufen der Wertpapierkäufe einige Monate vorher ankündigen, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Friedrich Heinemann, Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, mahnt: „Dringend nötig wäre eine klare Perspektive für 2018 mit einer realistischen Strategie zum Auslaufen der Anleihekäufe. Wie bei jedem Ausstieg aus einer Droge ist mit Entzugserscheinungen an den Anleihemärkten zu rechnen, auch Panikattacken sind denkbar.“
Dabei will die Zentralbank unbedingt vermeiden, durch einen zu frühen Ausstieg aus dem QE-Programm die wirtschaftliche Erholung zu gefährden. Führt der Ausstieg zu einem Rückfall in niedrige Inflation, könnte auch die Zuversicht der Unternehmen untergraben werden. Die braucht es aber, damit sich die Erholung am Arbeitsmarkt fortsetzt.
Um heftige Ausschläge an den Märkten zu vermeiden, wird die EZB das QE-Programm vermutlich in mehreren kleinen Schritten, dem sogenannten Tapering, beenden. Bei einem schnellen Vorgehen könnte die EZB das Volumen ihrer Anleihekäufe bis Mitte 2018 auf Null zurückfahren. Das wäre eine Kompromisslösung im Streit um die richtige Geldpolitik, denn eine möglichst lange Fortsetzung hilft den Krisenländern; ein schneller Ausstieg kommt hingegen den Ländern entgegen, denen es wirtschaftlich heute schon wieder gut geht.
Unwahrscheinlich ist, dass nach einem Ausstieg die Zinsen sofort wieder anziehen. Das legt die Erfahrung der USA nahe: Der Leitzins der US-Notenbank war zwei Jahre nach Ende des QE-Programms noch unter einem Prozent.
Was könnte schlimmstenfalls passieren?
Wenn sich die wirtschaftliche Lage in Ländern wie Italien oder Griechenland wieder zuspitzt, könnte die Deflationsgefahr schnell zurückkommen. Die Zentralbank hat sich offengehalten, das QE-Programm noch einmal auszuweiten, sollte es im Euroraum wirtschaftlich wieder bergab gehen.
Experten streiten sich aber, inwieweit eine erneute Intensivierung der Sondermaßnahmen helfen würde, die Wirtschaft zu beleben. Der Vergleich mit den USA zeigt, dass der erste Einsatz eines QE-Programms meist der wirksamste ist. Außerdem ist der Markt für sichere Anleihen, die die EZB kaufen kann, begrenzt. Eine Knappheit auf diesen Märkten zeichnet sich bereits ab.
Zwei Nebenwirkungen des QE-Programms sind besonders riskant:
Erstens: Mit dem QE-Programm greift die EZB in die Verteilung des Wohlstands ein. Von günstigen Krediten profitieren besonders die Besitzer von Immobilien oder Aktien, deren Wert steigt. Die Verschärfung der Vermögensungleichheit untergräbt das Vertrauen in die EZB.
Zweitens: QE steigert die Nachfrage nach risikoreichen Finanztiteln wie Aktien und Unternehmensanleihen und heizt Immobilienpreise zusätzlich an. Hier könnte es zu einer Blasenbildung und anschließendem Kollaps kommen.
Was können die Regierungen tun?
Damit die Zentralbank zu einer konventionellen Geldpolitik zurückkehren und die Zinsen wieder anheben kann, muss der Euroraum vor allem die weiterhin bestehende Schwäche auf dem Arbeitsmarkt überwinden. Spanien beispielsweise wächst zwar wieder mit 3 Prozent jährlich, kommt aber aus einer tiefen Talsohle und verzeichnet weiterhin 17 Prozent Arbeitslosigkeit. Anhaltend hohe Erwerbslosigkeit, besonders unter Jugendlichen ist eine mögliche Erklärung, warum der Aufschwung die Inflation noch nicht erreicht hat. Die nationalen Regierungen können mit Investitions- und Weiterbildungsprogrammen nachhelfen und die wirtschaftliche Erholung beschleunigen.
Wirtschaftsreformen können zudem das Wachstumspotenzial des Euroraums erhöhen und so Druck von der Geldpolitik nehmen. Der Abbau von regulatorischen Schranken im Binnenmarkt würde es europäischen Unternehmen erlauben, stärker zu wachsen. Besonders in schlecht integrierten Sektoren wie dem Digital- oder Energiebereich könnten dadurch neue Geschäftsmodelle entstehen.
Anders als die EZB kann die Politik wirtschaftliche Schwächen gezielt angehen. Gleichzeitig haben die Länder mit den größten Problemen den geringsten finanziellen Spielraum. Ein Politik-Mix aus Geldpolitik, Fiskalpolitik und Strukturreformen lässt sich nur schwer koordinieren, ist aber dennoch wirksamer gegen Inflation, als wenn die EZB die ganze Last alleine trägt.