Staatsschulden Die Euro-Krise meldet sich zurück

Im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit, den die Flüchtlingskrise wirft, sind die Probleme des Euro-Raums nicht verschwunden. Die Malaise im Süden Europas ist hartnäckig.

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Hat die Krise nur überwintert? Die Flüchtlingskrise hält Europa in Atem und überdeckt die Probleme des Euro. Quelle: dpa Picture-Alliance

Bundeskanzlerin Angela Merkel muss sich auf dem EU-Gipfel vorgekommen sein wie auf einer Zeitreise: Denn genau wie vor einem Jahr traf auch jetzt der griechische Regierungschef Alexis Tsipras auf seine deutsche Kollegin und beschwerte sich über die Auflagen der Geldgeber, wie er sein Land zu reformieren habe. Konkret klagte Tsipras über Poul Thomsen, den Europa-Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), der von Athen viel zu harte Einschnitte bei den Renten fordere. Und genau wie vor einem Jahr nahm die Kanzlerin die Klagen des Griechen eher beiläufig zur Kenntnis. Stattdessen ging Merkel mit ihren Kollegen zu den beiden derzeit scheinbar viel wichtigeren Themen über: der Flüchtlingskrise und dem drohenden EU-Austritt der Briten.

Das aber könnte sich noch als eine fragwürdige Priorisierung von Europas Problemen erweisen. Denn ohne Zweifel sind Brexit und Flüchtlinge wichtige Themen – nur: Europas Schuldenkrise, die im vorigen Jahr erbitterte Auseinandersetzungen und viele lange Sitzungen in Brüssel beherrschte, hat sich dadurch nicht in Luft aufgelöst. Im Gegenteil: Die ökonomischen Probleme des Euro-Raums wachsen derzeit wieder. Vor allem in Südeuropas Krisenstaaten lässt das Wachstum nach und steigen die Schulden.

Gewiss wäre es falsch, die vier Krisenstaaten Griechenland, Italien, Spanien und Portugal über einen Kamm zu scheren. Aber in allen vier Ländern sieht es heute schlechter aus, als vor einem Jahr zu erwarten war. Von Athen über Rom und Madrid bis Lissabon meldet sich die Euro-Krise zurück. Selbst ein neuerlicher Ausbruch der Bankenkrise im Süden samt Rettungsprogramm scheint wieder möglich zu sein. Eine Mischung aus politischer Instabilität und ausgewachsener Reformresistenz macht aus der Euro-Krise eine unendliche Geschichte.

Nach den dramatischen Ereignissen des vergangenen Sommers hat sich in Griechenland ein lähmender Stillstand ausgebreitet. Ministerpräsident Tsipras kommt mit wichtigen Reformen einfach nicht voran. Die Unternehmen des Landes leiden noch immer unter der Krise von 2015. Damals verdarben die Kapitalverkehrskontrollen den Exporteuren gründlich das Geschäft. Der griechische Außenhandelsverband errechnete, dass dem Land Erlöse von 2,3 Milliarden Euro durch Ausfuhren entgingen. 2015 sanken die Exporte schon zum dritten Mal in Folge. Und einige Grundübel bleiben hartnäckig: Griechenland leidet immer noch an zu hohen Lohnstückkosten, obwohl die in den vergangenen fünf Jahren gesunken sind. Aber der Rückgang macht den explosiven Anstieg im Jahrzehnt davor nicht wett.

Reformen scheitern zum Beispiel, weil die Landwirte auf die Straße gehen und dagegen protestieren, in Zukunft höhere Beiträge für die Rentenkasse zahlen zu müssen. Da aber auch die internationalen Geldgeber darüber streiten, wie stark das Rentensystem reformiert werden muss, kann sich die Regierung vorerst zurücklehnen.

Ohne Umbau des Rentensystems kommt allerdings die Überprüfung des aktuellen Rettungsprogramms nicht voran – und die ist Voraussetzung für Schuldenerleichterungen und weitere Tranchen an Hilfsgeldern. Fließen die nicht, wird die Zahlungsfähigkeit des Landes wieder einmal getestet. Mit möglicherweise gewaltigen Konsequenzen: Schon zur Jahresmitte könnte der Regierung in Athen erneut das Geld ausgehen und damit auch das Thema Grexit wieder auf die Tagesordnung kommen, heißt es in Brüssel.

Italien: Wirtschaft und Politik ohne Schwung

Eigentlich ist die Regierung von Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi so stabil wie keine italienische Nachkriegsregierung zuvor. Renzi hat in seinen ersten zwei Jahren viele politische Neuerungen auf den Weg gebracht, auch einige wirtschaftliche Reformen angefasst. Sein wichtigstes Ziel aber hat er verfehlt: Die italienische Volkswirtschaft kommt nicht in Schwung.

Italiens Wirtschaftswachstum hinkt seit 15 Jahren dem der Euro-Zone hinterher. Bisher sieht es nicht so aus, als ob Renzi das ändern könne. Vor allem die Lohnstückkosten sind gestiegen – was auch erklärt, warum das Land eine der niedrigsten Beschäftigungsquoten der Euro-Zone aufweist. Noch ist es zu früh, die Arbeitsmarktreform von 2015 zu bewerten. Aber ein Teil der so ausgelösten Neueinstellungen sind teuer erkauft. Arbeitgeber, die vor dem Jahreswechsel neue Kräfte eingestellt haben, bekommen in den ersten drei Jahren die Rentenbeiträge subventioniert. Das Geld wird an anderer Stelle fehlen.

Auch die viel beachtete Vereinfachung des politischen Systems hat bisher keine Rendite abgeworfen. Man muss nicht so streng sein, wie Daniel Gros vom Brüsseler Centre for European Policy Studies, der sagt: Renzi habe „das Land nicht institutionell erneuert“. Aber fest steht: Die bisherigen Reformen haben sich ökonomisch kaum ausgezahlt. Ein wichtiges Beispiel sind die 5000 halbstaatlichen kommunalen Betriebe in Italien. Renzi hatte versprochen, dieses Dickicht zu beschneiden. Er hat es nicht getan.

Spaniens Linkspolitiker Pedro Sánchez (links) und Pablo Iglesias. Quelle: dpa

Spanien: Die Erholung ist verpufft

In Spanien herrscht politische Instabilität – miserable Voraussetzung für eine gedeihliche Entwicklung. Seit der Parlamentswahl kurz vor Weihnachten verhandeln die Parteien über eine neue Regierung. Ob der Sozialisten-Chef und frühere Oppositionsführer Pedro Sánchez jetzt eine stabile Regierung zustande bringen wird, ist fraglich. Dabei schien es lange, als hätte Spanien den Weg aus der Krise gefunden. Die Wirtschaft wuchs vergangenes Jahr um 3,2 Prozent, EU-Rekord. Der bisherige konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte wie sein sozialistischer Vorgänger José Luis Zapatero den Arbeitsmarkt liberalisiert und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gestärkt. Die Arbeitslosigkeit ist aber mit fast 21 Prozent immer noch viel zu hoch.

Für die Probleme gibt es politische wie ökonomische Gründe. Die Ausfuhren entwickeln sich chronisch schwach – was auch an der Krise in Lateinamerika liegt, wo die Spanier wichtige Märkte haben. Es hilft auch nicht sehr, dass die französischen Autohersteller Renault und PSA heute in Spanien doppelt so viele Autos bauen wie die VW-Tochter Seat. Das liegt eher an der Schwäche Frankreichs, nicht an der Stärke Spaniens. „Das fulminante Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr ist vor allem durch den niedrigen Ölpreis, den schwachen Euro und den Aufkauf von Staatsschulden im großen Stil durch die EZB getrieben worden“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Josep Oliver von der Universitat Autònoma in Barcelona – keine Rede von einem spanischen Wirtschaftswunder.

Zu den durchwachsenen ökonomischen Resultaten kommen nun die neuen politischen Risiken. Einen längeren Zeitraum ohne Regierung kann Spanien gar nicht gebrauchen – genau das droht aber, wenn der Sozialist Sánchez keine Mehrheit im neu gewählten Parlament bekommt. Wenn er es aber schafft, droht ebenfalls Ungemach. Denn sein potenzieller Partner Pablo Iglesias und dessen Protestpartei Podemos fordern für ihre Unterstützung einen radikalen Bruch mit der bisherigen Reformpolitik. Das hieße Annullierung der Arbeitsmarktreformen und staatliche Mehrausgaben von 96 Milliarden Euro in der neuen Legislaturperiode. Jetzt haben acht Unternehmensverbände in einem gemeinsamen Appell die Politiker aufgefordert, rasch eine stabile Regierung zu bilden. Nach der Verfassung des Königreichs bleiben nach einem gescheiterten Versuch der Regierungsbildung nur zwei Monate Zeit für einen erneuten Versuch, eine mehrheitsfähige Koalition zustande zu bringen. Andernfalls sind Neuwahlen fällig. Zu denen könnte es tatsächlich Ende Juni kommen. Bis zum Herbst gäbe es dann in Madrid keine handlungsfähige Regierung.

Die politische Unsicherheit wiegt schon jetzt schwer: Spanische und ausländische Unternehmen halten Investitionen zurück. Auch für spanische Staatsanleihen ist das schlecht: „Niemand sollte daran zweifeln, dass sich die Fonds zurückziehen, wenn es Grund zur Angst über die Zukunft des Landes gibt“, sagt der Ökonom Oliver.

Portugal: Falsche politische Signale

Aber auch eine funktionierende Regierung kann zum Problem für ihr Land werden, wenn sie den falschen Kurs einschlägt. Wie derzeit in Lissabon: Anfang Oktober haben die Portugiesen ein neues Parlament gewählt, und seit November dreht der Sozialist António Costa als Chef einer Minderheitsregierung die Reformen der abgewählten Konservativen zurück. Was die Rückkehr der Wirtschaftskrise beschleunigen kann.

Ein Termin dafür steht schon im Kalender. Am 29. April, ein Freitag, wird die kanadische Ratingagentur DBRS ihr Urteil über Portugal fällen. Das ist entscheidend, weil Portugal bisher im DBRS-Rating vergleichsweise gut abgeschnitten hat. „Unser Rating ist bisher positiver ausgefallen als das der anderen Agenturen, weil wir uns langfristig orientieren“, sagt DBRS-Analystin Adriana Alvarado. Ihre Agentur hat portugiesischen Staatsanleihen im vorigen Jahr noch ein Investmentgrade zuerkannt, während die vier anderen Agenturen, deren Bewertungen die Europäische Zentralbank (EZB) berücksichtigt, die Papiere aus Lissabon schon auf Ramschniveau herabgestuft haben.

Sollten nun auch die Kanadier Ende April portugiesische Anleihen negativ bewerten, hätte das Konsequenzen: Die EZB könnte dann in ihrem Ankaufprogramm Portugals Staatsanleihen nicht mehr berücksichtigen. Vor allem dürfte sie nach den eigenen Regeln die Anleihen nicht mehr als Sicherheit von Banken akzeptieren. In der Folge wären portugiesische Banken dann nicht mehr liquide. Entsprechend nervös sind heute schon die Märkte: Die Renditen der portugiesischen Staatsanleihen sind seit dem Wahltag um bis zu 200 Basispunkte gestiegen.

Entscheidung im April

Noch sei es zu früh für Prognosen für die Entscheidung im April, sagt die Analystin Alvarado. Sie weiß aber auch, dass die Wachstumsschätzung der portugiesischen Regierung sehr optimistisch ist. Lissabon kalkuliert mit einem Wachstum von 1,8 Prozent in diesem Jahr; DBRS hält 1,5 Prozent für realistisch. Dennoch hat Ministerpräsident Costa das „Ende der Austerität“ ausgerufen – obwohl die Staatsschuld mit 129 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) die dritthöchste in der Euro-Zone ist.

Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen

Experten der EU-Kommission hatten zwar dafür plädiert, den von der portugiesischen Regierung einmal nachgebesserten Haushalt zurückzuweisen. Doch daraus wurde nichts: Denn Premierminister Costa telefonierte mit den sozialistischen Ministerpräsidenten in der Euro-Zone und vor allem mit Frankreichs Präsident François Hollande. Woraufhin EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker davon absah, Portugal zu einem strengeren Sparkurs anzuhalten. In Brüssel kursieren bereits Szenarien, nach denen Portugal, das zwischen 2011 und 2014 mit 78 Milliarden Euro vor der Pleite gerettet werden musste, schon bald wieder einen Notkredit beim Rettungsschirm ESM beantragen muss.

Paris mag nicht sparen ...

Der Süden der Währungsunion kommt auch deswegen mit seiner Vorstellung von Wirtschafts- und Währungspolitik durch, weil das zweitgrößte Euro-Land Frankreich ebenfalls davor zurückschreckt, die Auflagen der Euro-Stabilitätspolitik zu erfüllen. Präsident François Hollande will nicht sparen, weil das französische Wirtschaftswachstum so schwach ist.

Die Regierung in Paris sperrt sich vor allem gegen den schnellen Abbau ihres eigenen Budgetdefizits, das nach Brüsseler Berechnungen dieses Jahr bei 3,4 Prozent liegen wird. Bei solcher Politik im eigenen Land kann und will Hollande einen strengen europäischen Kurs gegen seine südlichen Nachbarn natürlich nicht unterstützen.

Dabei hatte die EU-Kommission doch eigentlich vor allem auf deutschen Druck die Überwachung der Euro-Länder verschärft. Kanzlerin Merkel zeigte sich stolz über eine Vielzahl neuer Instrumente mit so schönen Namen wie „Twopack“, „Sixpack“ oder „europäisches Semester“. Die waren geschaffen worden, damit die Regierungen der Euro-Staaten den Weg der ökonomischen Tugend nicht verlassen. Doch jetzt zeigt sich: Die Instrumente greifen nicht. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hatte in Brüssel zwar auf Portugals Probleme hingewiesen, aber ihm fehlen die Verbündeten im Kollegenkreis. „Schäuble ist isoliert in der Euro-Gruppe“, sagt ein Teilnehmer.

Die deutsche Logik der Euro-Rettung, die neben dem Aufbau eines Rettungsnetzes vor allem auf mehr Haushaltsdisziplin und höhere Wettbewerbsfähigkeit abzielte, geht deswegen nicht auf. Und mit ihrer Politik der niedrigen Zinsen und ihren großflächigen Anleiheaufkäufen wirkt die EZB den Mahnungen zur Sparsamkeit entgegen. Schon bei ihrer Ratssitzung am Donnerstag nächster Woche könnte Präsident Mario Draghi weitere Stimulus-Maßnahmen beschließen lassen, die den Reformdruck auf die Regierenden in den Euro-Staaten weiter senken. Der IWF sieht mit großer Sorge, dass Staaten die Periode niedriger Zinsen nicht nutzen, um ihre Schulden herunterzufahren.

Die EU-Kommission arbeitet derweil an der „sozialen Säule“ der Währungsunion. Dabei will sie Regelungslücken im Sozialbereich ausfindig machen. Soziales fällt eigentlich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Aber offenbar will die EU-Kommission lieber mit sozialen Wohltaten auffallen, statt Einsparungen einzufordern.

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