Aus Frankreich ist Erstaunliches zu vernehmen. "Europa muss Glaubwürdigkeit zeigen" betonte Staatschef François Hollande, während er auf der gerade eröffneten Agrarmesse in Paris zwischen wiederkäuenden Kühen, Milchbauern, Käsetheken und glänzenden Hinterschinken umher schlenderte, und nebenbei ein paar Worte über den erreichten Kompromiss in der Griechenland-Krise verlor. "Wir müssen zeigen, dass wir Regeln haben, die für alle Länder gelten."
Erstaunlich sind diese Worte deshalb, weil gerade Frankreich sich anschickt, diese Regeln einmal mehr zu brechen. Erst 2018, so ist aus Brüssel zu hören, wolle Paris wieder das für die Euro-Länder obligatorische Limit von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bei der Neuverschuldung einhalten. Ein entsprechender Antrag sei gestellt. Es sieht so aus, als habe Paris die Aufregung über einen möglichen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone geschickt genutzt, den brisanten Vorstoß zu lancieren.
Paris will keine weiteren Sparmaßnahmen
Die fortwährende Unfähigkeit der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas, ihr Defizit zu kontrollieren, ist nämlich nach Einschätzung zahlreicher Experten das weit größere Problem als der griechische Aufruhr gegen die europäischen Sparverordnungen. Eine offizielle Bestätigung für den Antrag gab es zunächst nicht. Nach dem Wunsch der sozialistischen Regierung in Paris soll Brüssel aber die verbleibenden 27 Monate bis zur nächsten Präsidentschaftswahl im Mai 2017 nicht mit Forderungen nach weiteren Reformen und Sparmaßnahmen im öffentlichen Haushalt vergiften.
Woran Frankreich krankt
In Frankreich sticht die ungünstige Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit hervor. Auch deshalb ist der Weltmarktanteil des Exportsektors des Landes deutlich gesunken; die Leistungsbilanz hat sich seit Beginn der Währungsunion kontinuierlich verschlechtert– von einem Überschuss von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu einem Defizit von zuletzt etwa 2 Prozent. Im Durchschnitt der zurückliegenden drei Jahre hat Frankreich damit das höchste Leistungsbilanzdefizit aller Kernländer aufgewiesen. Im „Global Competitiveness Report 2012-2013“ belegt Frankreich damit nur Rang 21 von insgesamt 144 Ländern. Im Jahr 2010 wurde es mit Rang 15 noch deutlich besser bewertet.
Quelle: Frühjahrsgutachten der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute; Commerzbank
Die Lohnstückkosten sind seit 1999 um 30 Prozent gestiegen. Die Lage heute: Während eine Arbeitsstunde deutsche Arbeitgeber 30,40 Euro kostet, fallen westlich des Rheins 34,20 Euro an. Typisch für den Niedergang sind die Autobauer. „Hier verdichten sich die Probleme Frankreichs“, sagt Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer. Das Land produziere 40 Prozent weniger Kraftfahrzeuge als 2005, Deutschland dagegen 15 Prozent mehr.
Die wirtschaftliche Entwicklung lässt kaum eine deutliche Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der öffentlichen Verschuldung erwarten. Die Arbeitslosigkeit dürfte auf einem hohen Niveau jenseits von 10 Prozent verharren.
Noch wird die Schuldentragfähigkeit von den Anlegern nicht in Frage gestellt. Die öffentliche Verschuldung Frankreichs hat sich aber seit der Großen Rezession deutlich erhöht. Zwischen 2008 und 2012 stieg die Schuldenstandsquote um rund 25 Prozentpunkte auf über 90 Prozent. Im Jahr 2013 lag die Defizitquote mit 4,3 Prozent weiterhin deutlich über den Maastricht-Kriterien. Und auch für das Jahr 2014 wird eine diesen Wert überschreitende Quote erwartet. Damit steigt die öffentliche Verschuldung weiter.
Die private Verschuldung ist in Frankreich weniger stark gestiegen und liegt auf einem deutlich geringeren Niveau als z. B. in Irland, Spanien und Portugal. Dennoch ist Frankreich das einzige der ausgewählten Länder, in dem die private Verschuldung auch seit 2009 noch merklich zunimmt.
Die amtierenden Politiker der Parti Socialiste (PS) fürchten nicht zu Unrecht einen weiteren Sympathieverlust ihrer Wähler zu Gunsten der rechtsnationalen Front National (FN) von Marine le Pen. Die punktet mit EU-feindlichen Parolen und macht gleichzeitig soziale Versprechungen, wie man sie bisher nur von Frankreichs Linker gewohnt war. Schon Ende März bei den Departments-Wahlen dürften die Sozialisten die nächsten Niederlagen einstecken. Zudem bewies der Machtkampf der vorigen Woche um die Verabschiedung des Gesetzes zur Liberalisierung des französischen Dienstleistungssektors, dass die Regierung nicht mehr auf eine parlamentarische Mehrheit zur Durchsetzung weiterer Reformen zählen kann.
Regierung hat ihr Pulver verschossen
Obwohl das Gesetz nur Trippelschritte wie die Ausweitung von Ladenöffnungszeiten, mehr Konkurrenz für Notare und Apotheker oder den Einsatz von Fernbussen in homöopatischer Konkurrenz zur Staatsbahn SNCF vorsah, musste es gegen den Widerstand des linken PS-Flügels mit der sogenannten 49-3-Regel der französischen Verfassung durchgepaukt werden. Sie gestattet der Regierung, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament für verabschiedet zu erklären. Allerdings nur ein einziges Mal pro Legislaturperiode - Fragen zum Budget und zur sozialen Sicherheit ausgenommen. Damit hat die Regierung nun ihr kräftigstes Pulver verschossen. Er werde "ohne Unterlass weiter reformieren", betonte Premierminister Manuel Valls zwar im Anschluss. Die Frage ist nur, wie er das anstellen will.
Vielleicht sprach Hollande deshalb auf der Agrarmesse tatsächlich nicht über Griechenland, sondern vielmehr über Frankreich, als er neben der Glaubwürdigkeit auch Solidarität einforderte: "Wenn es Länder gibt, die leiden, ist es legitim, dass wir sie begleiten und gleichzeitig die Respektierung ihrer Zusagen verlangen." Bereits 2013 hatte die EU-Kommission Frankreich zwei Jahre zusätzlich eingeräumt, um das Defizit-Limit wieder zu erreichen.
Dieses Ziel sei unmöglich vor 2017 zu erreichen, räumte Paris schließlich nach monatelangen verbalen Verrenkungen ein. Ende 2015 wird die Neuverschuldung aller Voraussicht nach mindestens bei 4,1 Prozent des BIP liegen, und auch das nur mit Mühe. Das Wirtschaftswachstum dürfte zwar dieses Jahr mit 0,8 Prozent doppelt so hoch ausfallen wie 2014. Allerdings wird es viel zu gering sein, um erhebliche Steuermehreinnahmen zu produzieren und den stetigen Anstieg der Arbeitslosenquote zu bremsen. Die Industrieländerorganisation OECD rechnet stattdessen mit einem Anstieg der Erwerbslosenquote auf dem französischen Festland von 9,9 auf 10,1 Prozent.
"Kürzungen von 15 bis 20 Milliarden Euro sind nicht genug," kritisiert Peter Jarret, bei der OECD für Frankreich zuständig, die Regierungspläne, im Haushalt 2015 eine entsprechende Summe einzusparen. Bis 2017 sollen es 50 Milliarden sein. Frankreich, so Jarret, könne kurzfristig ohne Negativeffekte die öffentlichen Ausgaben viel aggressiver kürzen, indem die Krankenkassen auf die Verschreibung von Generika drängten und die Zahl der Gemeinden (derzeit 39.000) verringert werde.
Mathilde Lemoine, Ökonomin bei HSBC France, spricht inzwischen von einem "systemischen Risiko" ihres Landes für den Euro. "Die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts steht auf dem Prüfstand", warnte der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger im "Handelsblatt" vor einem erneuten Aufschub. Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici, ein Franzose, drohte erneut mit Sanktionen. Am Freitag will die EU-Kommission ihr Verdikt über die Haushaltsentwürfe aus Paris und Rom sprechen. Doch dabei hatte Paris dabei die jüngste Hiobsbotschaft noch gar nicht einkalkuliert. Der Atomkonzern Areva, der zu 87 Prozent in staatlicher Hand ist, meldete am Dienstag einen voraussichtlichen Verlust von knapp 5 Milliarden Euro für das Geschäftsjahr 2014. Das ist weit mehr, als das Unternehmen an der Börse wert ist, und auch mehr, als es an eigenen Mitteln verfügt. Areva ist damit nach PSA Peugeot Citroën und Alstom vermutlich das dritte ehemalige Aushängeschild der französischen Industrie, das Staatshilfe benötigt.