Stephans Spitzen

Demokratie ist, wenn man trotzdem lacht

Cora Stephan Politikwissenschaftlerin

Wer falsch wählt, wird von beleidigten Meinungsführern gerne als minderbemittelt und verhockt abgestempelt. Vielleicht sollte sich manch einer mal an die eigenen Prinzipien von früher erinnern.

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Demonstration für den Verbleib in der EU in London Quelle: AP

Immer wieder erstaunlich, wie sich die meinungshabende Klasse in eine zutiefst beleidigte Kaste verwandelt, wenn es einmal nicht so läuft, wie sie es für richtig hält. Viele öffentliche Reaktionen auf das Brexit-Votum der Briten waren, um es höflich zu sagen, verblüffend. Da hieß es, die Dummen und Minderbemittelten, die noch nicht ausreichend Belehrten hätten für den Auszug Großbritanniens aus der EU gestimmt, blöde Landeier, dumpfe Alte, verhockte Asoziale. Da wurde daran gezweifelt, dass Demokratie eine gute Idee sei, über ein Wahlverbot für Ältere nachgedacht oder die Notwendigkeit von Abstimmungen über wichtige Angelegenheiten grundsätzlich infrage gestellt. Man fühlte sich glatt ins 19. Jahrhundert versetzt, als manch kluger Kopf mit ähnlichen Argumenten fürs Dreiklassenwahlrecht optierte.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Menschen, die sich normalerweise hingebungsvoll gegen Diskriminierung und Generalverdacht stemmen, finden nichts dabei, alte weiße Männer (und Frauen) zu diffamieren und ganze Generationen jenseits der 50 mit einem Generalverdacht zu belegen: dass sie nämlich, den Sarg im altersschwachen Auge, nicht mehr an die Zukunft dächten, sondern ihr letzten Erdentage nach dem Motto „nach mir die Sintflut“ verbrächten.

Lassen wir mal beiseite, dass solche Argumente auch von weißen alten Männern geäußert werden, die sich in den letzten Jahren die allergrößte Mühe gegeben haben, künftigen Generationen einen gewaltigen Schuldenberg zu hinterlassen. Nicht etwa im Sinne von Zukunftsinvestitionen, sondern durchaus wegen recht gegenwärtiger Interessen: um eine Landtagswahl zu gewinnen (Energie“wende“) oder überhaupt wiedergewählt zu werden (kostspielige Wahlgeschenke). Sie dürfen im übrigen darauf setzen, für gegenwärtige Fehlentscheidungen nicht geradestehen zu müssen, aus jenem Grund, den sie den anderen vorhalten: wenn sich die Folgen bemerkbar machen, dürften sie schon ins Grab gesunken sein. Dass ausgerechnet diejenigen sich über die Zukunft der Jungen grämen, denen durchaus nicht daran gelegen ist, dass Eltern höchstpersönlich für die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder vorsorgen, ist besonders grotesk. Kaum etwas ist bei der „Gerechtigkeit dank Umverteilung“-Lobby verpönter als das Erben und Vererben.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Zeugt die Schwärmerei für die „weltoffene“ Jugend womöglich gar von altersspezifischer Vergesslichkeit derjenigen, die sie zur allfälligen Rebellion gegen „die Alten“ auffordern? Wir wollen ihnen nicht unterstellen müssen, dass sie an die Neuauflage der chinesischen Kulturrevolution denken, diesmal in Europa, also: Schlagt sie tot, die Alten, die nicht an die von oben verordnete Zukunft glauben.

Klar, es gibt junge Leute, die sich schon auf der Schule ausrechnen, wie sie einmal eine gute Altersversorgung erzielen. Eine erkleckliche Zahl Wohlstandsverwöhnter aber denkt nicht daran, sich um ihre Zukunft (oder gar die anderer) Sorgen zu machen, sie glauben in der Gegenwart besseres zu tun zu haben als zu Abstimmungen über den Brexit zu gehen. Ihre „Weltoffenheit“ beruht überdies nicht selten auf einem Mangel an schlechten Erfahrungen – oder, freundlicher gesagt, auf einer hinreißenden, lebensfrohen Naivität, die man leider mit dem Älterwerden verliert.

Brexit als Chance?

Was das politische Urteilsvermögen von Menschen unter 30 und insbesondere unter 20 betrifft, so hat die Geschichte ein paar unangenehme Lehren parat. Gerade den alten 68ern sollte noch präsent sein, wie sie als junge Weltoffene Mao und Ho-Tschi-Minh, Stalin und Pol Pot huldigten. Überall auf der Welt, zu allen Zeiten und Kulturen, sind es junge Männer, die eine Gesellschaft braucht, um blutige Kriege und Bürgerkriege zu führen. Eine älter werdende Gesellschaft ist schon deshalb eine friedlichere und, wer weiß, womöglich sogar dank Erfahrung eine weisere.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Nun glaube ich allerdings keineswegs, dass direkte Demokratie das Maß aller Dinge ist. Die Idee der Repräsentation ist eine gute Sache, derzufolge Politiker als Stellvertreter die individuellen Interessen ihrer Wähler mit dem Allgemeinwohl abgleichen. Die deutsche Parteiendemokratie mit ihrem Listenwahlrecht, das dafür sorgt, dass Abgeordnete vor allem ihrer Partei und nicht ihren Wählern folgen, ist indes nicht im Sinne des Erfinders. Man denke an die Abstimmung über den Eurorettungsschirm 2011, als man per Fraktionsdisziplin Stellungnahmen Abtrünniger unterdrücken wollte. Das war das Ende der FDP und die Geburtsstunde der AfD.

Die Grünen waren übrigens nur so lange für Plebiszite, solange sie glaubten, damit die in ordnungsgemäßen Wahlen nicht erreichte Legitimation sozusagen durch die Hintertür nachholen zu können. Heute, wo sich das Volk derart widerspenstig zeigt, nimmt man schon mal von seinen basisdemokratischen Prinzipien Abstand.

Im Brexit-Wahlkampf heizt sich die politische Debatte auf. Auch jenseits von Großbritannien wird es höchste Zeit, die Frage zu stellen, ob die EU tatsächlich eine weltpolitische Notwendigkeit ist.
von Cora Stephan

Überhaupt, die alten Parolen und „Prinzipien“: viele, die früher Widerstand für Pflicht hielten und der Staatsmacht zutiefst misstrauen, möchten heute Kritik an der Regierung am liebsten verbieten lassen. Und wo man früher „Small is beautiful“ gerufen hat, preist man heute das Großprojekt EU (gern mit Europa in eins gesetzt) als zukunftsträchtig und misstraut dem Nationalstaat, der doch immerhin eine überschaubare Größe ist. Warum? Weil die EU Frieden garantiere, während der Nationalstaat blutigen Nationalismus erzeuge?

Der Kalte Krieg hat Europa nach 1945 Frieden beschert, nicht die EU. Als diese eiserne Klammer fiel, kämpften die vom Kommunismus befreiten Völker - wofür? Für die kleinste, die nationale Einheit, die mehr demokratische Kontrolle verspricht als sie in der EU verwirklicht ist.

Noch gilt in Großbritannien europäisches Recht. Aber sobald das Land aus der EU austritt, wird sich auch im Kleinen vieles wandeln – nicht nur für die Briten.
von Silke Wettach

Eins überrascht mich ganz besonders. Dass Deutschland sich verändere – etwa durch Zuwanderung – wird ja oft applaudierend begrüßt bei den Progressiven und Weltoffenen an der deutschen Meinungsfront. Von der Chance, die das Brexit-Votum der Briten bietet, ist dort jedoch kaum die Rede: es ist die Chance, Europa zu neuen Ufern zu führen, die weder EU noch Eurozone heißen, jene am Reißbrett entworfenen Konstrukte, die längst gescheitert sind.

Der Brexit könnte ein heilsamer Anstoß sein. Dafür hat das Volk der Dummen, Unbelehrten, Alten und Verhockten gesorgt.

Ins Offene, liebe Europafreunde! Es muss ja nicht immer gleich das Weltoffene sein.

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