Geht es nach John Maynard Keynes, dem großen Melancholiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, ist es in exakt 14 Jahren soweit: Der Kapitalismus hat uns in paradiesische Wohlbefindlichkeitsweiten expediert, wir können den ratternden Fortschrittsmotor abstellen, uns unter den Baum der Prosperität legen und die Früchte unseres Reichtums genießen. Der britische Ökonom meinte 1928, „dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst“ sein werde. Eine Epoche der Fülle werde anbrechen, so Keynes, mit einem Drei-Stunden-Tag und einem Lebensstandard, der „vier- bis achtmal so hoch sein wird wie heute“ - Zeit und Wohlstand satt, um sich endlich den „wirklichen Dingen des Lebens“ zu widmen.
Joseph Schumpeter, der große Tragiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, hielt die Thesen des Kollegen für kompletten Unsinn. Für ihn war Kapitalismus ein dynamischer, unabschließbarer Prozess, der uns nicht in einen stationären Idealzustand, sondern in eine Art dauernde Zukunft katapultiert. Schumpeters Kapitalismus verheißt uns niemals Ankunft, schon gar nicht in Arkadien, sondern beständige Unruhe. Die moderne Wirtschaftsform zwinge uns zum Aufenthalt in einer Welt, die von Innovationen laufend umgepflügt wird, in der das Neue ständig wird und wächst und wuchert.
Was aber, wenn der kapitalistischen Maschine die Antriebsstoffe ausgehen? Wenn sich das Wachstum von seiner Substanz nährt, bis ihm zuletzt die Grundlagen fehlen? Hat sich der Kapitalismus als expandierendes System nicht längst überlebt, weil sein konstitutive Grenzenlosigkeit nicht mehr zusammenpasst mit der Endlichkeit globaler Ressourcen? Und zeigen nicht die Geldkrisen der Gegenwart beispielhaft, dass Wachstum in Industriestaaten heute buchstäblich von gestern ist, weil dieses Wachstum die Quellen unserer Zukunft erschöpft?
Deutschland zum Beispiel, das ökonomischen Musterland Europas, ist in den vergangenen elf Jahren um rund ein Prozent jährlich gewachsen, gewiss – aber es hat sich dafür rund 330 Milliarden Euro aus der Zukunft geliehen (Neuverschuldung). Bei einem solchen "Wachstum" handelt es sich nicht wirklich um Wachstum, sondern um die kreditfinanzierte Aufrechterhaltung einer Wachstumsillusion. Um ein "Wachstum", das keine Spielräume mehr eröffnet. Sondern unsere Perspektiven schrumpft.
Sogar unter notorisch innovationsfeindlichen Ökonomen hat sich daher herumgesprochen, dass Wachstum nicht alles ist - und dass ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in saturierten Volkswirtschaften nicht zu verwechseln ist mit einem Zuwachs an Glück und Zufriedenheit. Entsprechend haben Forscher mittlerweile eine Fülle von Indikatoren entwickelt, die eine präzisere Evaluierung unseres Wohlstands versprechen. Ihr größtes Problem ist, dass sie statt Wachstum "Fortschritt" und "Nachhaltigkeit" messen wollen – dass aber "Fortschritt" und "Nachhaltigkeit" politisch leicht ausbeutbare Universalvokabeln sind.
In die meisten Indizes jedenfalls fließen nicht nur ökologische und finanzielle Nachhaltigkeitsfaktoren ein, sondern auch soziale (Einkommensverteilung), gesellschaftliche (soziale Durchlässigkeit) und demoskopische (Befindlichkeitsumfragen) – ganz so, wie es den Präferenzen der Wissenschaftler (und ihrer Auftraggeber) entspricht. Der Sache dienlich ist das nicht.
Die Bedeutung des Fortschritts damals und heute
Freilich, an der Dringlichkeit, "Wachstum", "Wohlstand" und "Fortschritt" in Europa künftig anders zu vermessen, ändern solche Defintionsschwächen nichts. Hat sich nicht der Glaube an die progressiven Ideen der europäischen Aufklärer, an eine lineare Entwicklung des Fortschritts, an das sittliche Wachstum der Menschheit nicht längst gründlich verbraucht? Wem steht heute noch der Optimismus zur Verfügung, auf eine "lebhafte Gärung der Geister" und einen "allgemeinen Aufschwung der Ideen" (d'Alembert, 1758) zu hoffen, auf "die Überlegenheit einer allumfassenden Moral" der "gebildeten Menschen" (Diderot, 1765) und die "Vervollkommnung des Menschengeschlechts" (Condorcet, 1794)?
Fortschritt, übersetzt als kapitalistisches Gesetz des "Immer-Mehr", wird heute von vielen Europäern nur mehr als bloßes Fortschreiten empfunden, als stehendes Marschieren, als systemischer Zwang zum unendlichen Hamsterrad-Lauf. Entsprechend viel ist neuerdings von "Entschleunigung" und "qualitativem Wachstum" die Rede. Helfen solche Begriffe weiter?
Rückblickend und ex negativo schon. Denn "Beschleunigung" und "quantitatives Wachstum" sind zwei Kernbegriffe, ohne die man die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, das historische Einmalereignis der "Industriellen Revolution" und die Bedeutung des Kapitals als klassischer Treibstoff des Fortschritts nicht zu fassen bekommt. Nehmen wir das Beispiel Eisenbahn: Sie ist damals in Europa (und in den USA) zugleich Motor, Katalysator und Symbol des zivilisatorischen Fortschritts.
Kein anderer Industriezweig bindet im "großen Spurt" Deutschlands (1845 bis 1873) mehr Kapital, mehr Arbeitsplätze - und mehr Zuversicht. Die Verzinsung des Kapitals im Eisenbahnsektor übertrifft damals mit fünf bis sieben Prozent den Ertrag aller anderen Anlageformen, was nichts anderes heißt als: Wachstum und Beschleunigung werden seither immer auch als Wachstum und Beschleunigung des Geld-Vermögens aufgefasst (und zwar im doppelten Sinne).
Anders gesagt: Die Aufwärtsentwicklung der Menschheit findet im 19. Jahrhundert nicht mehr in aufklärerischen Traktaten, sondern in steigenden Kursen und Bilanzzahlen ihren sinnfälligsten Ausdruck. Das Gelingen der Zeit spiegelt sich nicht mehr in der instauratio magna, der Überwindung des Aberglaubens im Geiste der Wissenschaft (Francis Bacon), sondern in steigenden Dividendenrenditen und sinkenden Fahrscheinpreisen.
Das ist die kulturelle Revolution der Industriellen Revolution: Der Fortschritt erschließt sich durch sein Fortschreiten zunehmend von selbst. Man macht die erstaunliche Erfahrung, dass die Weiterentwicklung von Wissenschaft und wirtschaftliches Wachstum sich wechselseitig bedingen - und dass ausgerechnet das kalte Kapital der "Humus" ist, "aus dem die Menschheit von morgen hervorsprießt" (Emile Zola).
Gewiss, diesem Fortschritt fehlt ein normatives Prinzip: Es kennt kein Ziel, auf das es hinaus will. Aber zu seinen größten Vorzügen gehört, dass er eines Zieles gar nicht bedarf - solange er fortschreitet. Das Wachstum damals kommt ohne Sinnstiftung aus. Es braucht keine Utopien und Ideale, keine theologische Fundierung und politische Beseligung, im Gegenteil: Der kapitalinduzierte Fortschritt überzeugt durch seine begründungslose Allgemeinverständlichkeit. Die Annehmlichkeit einer Bahnverbindung zwischen Innsbruck und Bozen, die im Jahre 1867 die Reisezeit von sechszehn auf sechs Stunden verkürzt, erschließt sich jedem - ganz ohne Pamphlet und Versammlung.
Die Fortschrittskonzepte des 20. Jahrhunderts
Spätestens im 20.Jahrhundert ist es damit gründlich vorbei: Die Fortschrittsidee ruft allerlei Faschisten und Kommunisten auf den Plan, deren Feldlaborversuche zur Verbesserung des Loses der Menschheit bekanntlich gründlich missglückt sind. Heute wiederum, nach dem Fall der Mauer und dem Verblühen der Sowjetunion, hält sich der zivilisierte Teil der Menschheit im ideologischen Abklingbecken auf, frisch geimpft mit dem kosmopolitischen Geist von Good Governance, Globalization und Green Sustainability - und vertraut auf andere, auf strahlend weiße Fortschrittskonzepte, wie sie etwa liberale Ökonomen, Apple-Designer, Genetiker und Reproduktionsmediziner propagieren.
In diesen Konzepten ist viel von der Entfesselung kreativer Kräfte die Rede und von der Bildung, Pflege und Vermehrung des Humankapitals, von den wunderbaren Möglichkeiten des präimplantationstechnischen Feintunings und den Segnungen algorithmischer Assistenzsysteme, die uns kognitiv entlasten, indem sie uns die schöne, neue Konsumwelt unseren Vorlieben gemäß, wie auf dem Tablett servieren.
Diese Konzepte erzählen uns von digital-individuellen, selbstbestimmten, unternehmerischen Café-Latte-Personen, die viel auf ihre Flexibilität halten - und von jungen Arbeitsathleten, für die “die Vereinbarkeit von Familie und Beruf” ein Kinderspiel ist, weil ein Laptop überall da und jederzeit plug-and-play-bereit ist, wo sich der ursprünglich petrischal aufgezüchtete Nachwuchs gerade effektiv frühbildet.
Das alles klingt cool und duftet nach viel Freiheit im Fortschritt, fürwahr: nach einer lässig durchmischten Zeit, in der Arbeitsstunden zu Freizeitstunden, Kollegen zu Freunden werden. Und natürlich lassen es auch die Unternehmen im “aktiven täglichen Streben nach praktischer Verbesserung der menschlichen Lage” (Auguste Comte, 1844) nicht an Anstrengungen fehlen, die zunehmend rar werdenden Ressourcen (Stichwort Fachkräftemangel) für sich zu gewinnen.
Man sieht: Die lineare Fortschrittsidee ist noch nicht ganz so verbraucht wie wir zuweilen geneigt sind zu denken. Von "Entschleunigung" und "qualitativem Wachstum" reden wir beherzt nur dann, wenn wir allgemein das "kapitalistische System" als etwas zu aufdringlich empfinden. Nicht aber dann, wenn es uns ganz alltagskonkret um die Anschaffung des jüngsten Ipads oder auch, positiv gewendet: um die Entwicklung von Elektroautos und energieeffizienten Kühlschränken geht.
Was also bedeutet das für die Zukunft von "Wachstum", "Fortschritt" und "Wohlstand" in Europa? Ganz einfach. Es bedeutet, dass wir lernen müssen, ein Paradox auszuhalten: Wir müssen künftig, mehr denn je, an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts stehen, um uns weniger Wachstum leisten zu können - ganz gleich, mit welchen Parametern wir es messen werden.
Um das Paradox zu verstehen, darauf habe ich vor einigen Wochen schon einmal hingewiesen, muss man verstehen, was Innovationen sind - und mit dem Ökonomen Joseph Schumpeter lernen, wie segensreich sie wirken: Innovationen, so Schumpeter, verbreiten sich über eine Vielzahl von Kanälen in der jeweiligen Branche, in der nationalen Wirtschaft und weit darüber hinaus – und „je mehr sich eine Innovation durchsetzt“, so Schumpeter, desto mehr verliert sie den Charakter einer Innovation … desto mehr lässt sie sich von Impulsen treiben, anstatt Impulse zu geben“ – bis sie zuletzt von neuen Innovationen kreativ zerstört wird. Die Folge ist ein ewiges Wettrennen zwischen Unternehmen und Nationen, die Zentren der Wissensproduktion sind sowie Unternehmen und Nationen, die an der Innovationsperipherie stehen.
Mehr Innovationen für Wohlstand und Entschleunigung
Es ist bekannt, dass Europa bis 1939 der Hauptproduktionsstandort und -Umschlagplatz von globalen Innovationen war - und das es seinen Reichtum der simplen Tatsache verdankt, dass hier (und nicht woanders) ein Großteil der ökonomischen Umsetzung all des Wissens, das in der Weltwirtschaft neu entstand oder neu zur Anwendung kam, stattfand.
Anders gesagt: Wir erfreuen uns in Europa nur deshalb eines so großen Wohlstands, weil unsere Unternehmen seit Jahrzehnten an der Spitze von Innovationen stehen. Ohne die Einfälle unserer Ingenieure, die Ideen unserer Forscher und das Geld unserer Investoren stünden wir sehr bald an der Innovationsperipherie – und hätten mit der Produktion von Maschinen- und Software-Generika nur noch sehr schmale Gewinne zu verteilen.
Europa muss daher weiter fortschreiten, ob es will oder nicht: Ohne Innovationen kein "qualitatives Wachstum", ohne Progress keine "Entschleunigung". Ausgerechnet die neuen ökologischen Knappheiten zwingen uns zu neuen Innovationen, die weltpolitische Marginalisierung des Kontinents vielleicht sogar noch mehr: Nachdem der Staatsschuldenkapitalismus die finanziellen Reserven Europas weitgehend aufgezehrt hat und die militärisch erschöpften USA auf mittlere Sicht zu schwach sein werden, um ihren weltpolizeilichen Aufgaben wie ehedem entsprechen zu können, wird nur noch ein realwirtschaftlich dominantes Europa ausreichend Kraft haben, mit überlegenen Maschinen und Anlagen auch so etwas wie „westliche Werte“ in Umlauf zu bringen.
Dabei handelt es sich einerseits um eine Herausforderung, die binnendemografisch schwierig genug ist – junge Bevölkerungen in wachstumskräftigen Ländern sind innovationsbereiter als graue, zivilisationssatte Gesellschaften wie die in Westeuropa – und andererseits um eine Herausforderung, die weltdemografisch beinahe unlösbar erscheint: Im Jahre 2050 wird Europa (ohne Russland) nur noch 6 Prozent der Weltbevölkerung stellen.
Nigeria und Indonesien werden dann doppelt so viele Einwohner zählen wie Deutschland, Frankreich und Italien. Kurzum, wenn es in zwei, drei Jahrzehnten überhaupt noch einen Vorsprung Europas gibt, kann es nur ein technologischer sein. Ein Vorsprung an Innovation, sprich: an überlegenen Ideen und Produkten, die beispielsweise das Zusammenleben von neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten erleichtern - und für die der große Rest der Welt bereit ist, einen angemessenen Preis zu bezahlen.
Europa (und mit ihm die unteilbare Doppelidee von "Wachstum" in zivilisatorischer und emanzipatorischer Hinsicht - hat künftig die Chance, als Gehirn der Welt eine funktionale Rolle zu spielen - oder überhaupt keine. Nur an der Spitze des "Fortschritts" kann es sich vernehmbar machen und glaubhaft auf die Vorzüge seines liberalen Politik- und Wirtschaftsmodells hinweisen - oder aber gar nicht.