Tauchsieder

Fährverkehr im Mittelmeer?

Vorhang zu - und alle Fragen offen: Wie geht es weiter mit der Flüchtlingskrise? Was zählen Schutzsuchende noch, seit Merkel sie „illegale Migranten“ nennt? Eine Bestandsaufnahme nach dem EU-Türkei-Deal.

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Die Situation für Flüchtlinge in Idomeni wird immer dramatischer. Quelle: Florian Bachmann - Imago

Das Stück über die Flüchtlingskrise auf den Bühnen der Medienhäuser ist vorläufig abgesetzt, der Vorhang zu - und alle Fragen offen. Seit den Landtagswahlen vor zwei Wochen, seit dem Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei und natürlich erst recht seit den Terror-Anschlägen in Brüssel ist den Deutschen das Schicksal von flüchtenden Syrern, Afghanen und Irakern nicht mehr so wichtig.

Ihre Not rückt uns buchstäblich nicht mehr auf den Leib; die toten Kinder in Mittelmeer und Ägäis werden in den Tageszeitungen nach hinten durchgereicht - warum auch nicht, seit Politiker nicht mehr von Schutzsuchenden, sondern „illegalen Migranten“ sprechen. Auf den „humanitären Imperativ“ der Hilfe hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der de-facto-Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl reagiert.

Und den Schutz seiner Außengrenzen - einstmals der Kern der „Wertegemeinschaft“ Europa - hat die EU kurzerhand outgesourct an die rüpelnde Erdogan-Türkei. Anders gesagt: Die AfD hat auf ganzer Linie gesiegt. Europa hat wegen Rechtsruck geschlossen. Merkel-Deutschland winkt nicht mehr durch, sondern ab: Willkommen im griechischer Lagerhaft, jetzt gibt’s ein herzliches Schnellverfahren - und dann geht’s ab zurück nach Asien!

Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland

Willkommen sind in Deutschland nicht mal mehr die rund 50.000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen in Griechenland gestrandet sind. Dabei hat SPD-Chef Sigmar Gabriel vor wenigen Monaten noch getönt, dass eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr gut verkraftbar seien. Dabei hat Merkel noch vor ein paar Wochen posaunt, die Flüchtlinge wären eine wirtschaftlich-demographische Chance für Deutschland - und Treiber einer gesellschaftlichen Veränderung, die sie ausdrücklich begrüße. Angesichts der seit Wochen offensichtlichen Probleme, die Griechenland mit der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge hat, ist die Kluft zwischen deutscher Regierungspolitik und moralischem Selbstanspruch nur noch beschämend. Auch die Nonchalance, mit der das EU-Türkei-Abkommen als Erfolg verbucht wird - obwohl seine rechtlichen Grundlagen fragwürdig und unanständig sind, sein Ergebnis minimal und vorläufig - ist atemberaubend. Sind es wirklich nur Randnotizen, wenn eine Organisation wie „Ärzte ohne Grenzen“ ihre Arbeit einstellt, weil sie sich nicht „zu Komplizen eines Systems“ machen will, „das wir als unfair und unmenschlich ansehen“? Dass das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sich nicht an „Haftzentren“ beteiligen will - und das Abkommen für rechtlich bedenklich hält?

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Tatsächlich ist die Vertragskonstruktion in vielerlei Hinsicht heikel, um nicht zu sagen: tollkühn - der jüngste Beleg für eine Politik, die nur noch nachsorgend flickt und schustert - und dabei alle Prinzipien außer Kraft setzt, zu deren Verteidigung sie recht eigentlich vor Eintritt des Schadenfalles aufgerufen (gewesen) wäre. Erstens: Europa schützt seine griechische Außengrenze nicht mehr aus eigener Kraft und kraft eigener Souveränität, sondern lässt sie schützen - militärisch (NATO) und mit Hilfe der Türkei.

Bildlich gesprochen heißt das: Europa will künftig nicht mehr auf den Zinnen seiner beneidenswert reich ausgestatten Burg stehen, um eigenhändig seinen Wohlstand zu verteidigen, sondern nutzt Wassergräben, bezahlte Söldnertruppen und vorgelagerte Pufferzonen, um sich unschöne Abwehrkämpfe zu ersparen. Die sechs Milliarden Euro, die von Brüssel aus in die Türkei fließen, sind eine Prämie für die Delegation moralisch delikater Grenzbegegnungen.

Zweitens: Das individuelle Recht auf Asyl bzw. auf eine Prüfung des Asylantrags ist in Europa praktisch außer Kraft gesetzt. Es stand vor einem Jahr noch - auf ausdrücklichen Wunsch Deutschlands - jedem zu, der in Spanien, Italien, Griechenland europäischen Boden betrat (Einzelfallprüfung; Dublin-Verfahren). Jetzt nicht mehr. Statt dessen soll jeder Flüchtling aus Syrien, der seit dem 20. März Griechenland erreicht, in die Türkei zurückgeschickt werden - solange man davon ausgehen kann, er werde in der Türkei nicht verfolgt (also prinzipiell alle).

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