Was aber steht bei den heutigen Europawahlen wirklich auf dem Spiel? Wählen wir mit den Abgeordneten heute wirklich die Menschen, die künftig in charge sein und die Zukunft des Kontinents, der EU und des Euro bestimmen werden, so wie es das Europäische Parlament auf seiner Homepage verspricht? Stimmen wir heute ab über die prinzipielle Frage, ob wir in Zukunft mehr Europa haben werden oder weniger, ob es einen Ausbau der EU in Richtung Wirtschaftsunion geben wird oder aber einen institutionellen Rückbau in Brüssel?
Nein, das tun wir ganz bestimmt nicht.
Stattdessen stimmen wir ab über Fragen des Daten- und Verbraucherschutzes, über unsere Rechte als Internetnutzer, Passagiere und Bankkunden.
Das Europaparlament ist ein Verbraucherschutzparlament; es sorgt dafür, dass Nahrungsmittel gekennzeichnet und Geldprodukte zertifiziert werden, dass Telefonkonzerne keine Roaminggebühren mehr kassieren, der Datenhunger von Internetkonzernen gemäßigt wird und Tabakhersteller auf die Folgen des Rauchens aufmerksam machen.
Wir stimmen daher heute beispielsweise darüber ab, ob wir ein Freihandelsabkommen mit den USA wollen oder nicht. Oder darüber, ob wir Googles Macht eher auf dem Vormarsch oder zerschlagen oder von einem amtlich aufgebauten europäischen Konkurrenten gemäßigt sehen wollen.
Darüber hingegen, wie wir es mit Eurobonds und Russland halten, mit Griechenland und dem Euro, haben wir Deutsche bereits vergangenen September abgestimmt: bei den Bundestagswahlen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Finanzminister Wolfgang Schäuble - sowie ihre Kollegen aus Frankreich - bestimmen die sicherheits-, wirtschafts- und finanzpolitischen Richtlinien der europäischen Politik immer noch mehr als die "europäische Außenministerin" Catherine Ashton oder der amtierende Kommissionspräsident José Manuel Barroso.
Daran ändert auch die Verknüpfung der Parlamentswahl mit der anschließend stattfindenden Neubesetzung des Kommissionspräsidenten nichts. Die drei größten Fraktionen im Europäischen Parlament/EP (Sozialisten (S&D)/SPD, Europäische Volkspartei (EVP)/CDU, Liberale/FDP), die derzeit 480 von 751 Sitzen auf die Waage bringen, mögen sich - wie auch die Grünen - von der Aufstellung ihrer "Spitzenkandidaten" und vom Junktim Wahlsieger-Kommissionspräsident eine Aufwertung des Parlaments, jedenfalls ein sichtbares Zeichen der EU-Demokratisierung erhofft haben.
In Deutschland hat Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings sehr deutlich gemacht, was sie von derlei Umtrieben hält, nämlich gar nichts. Merkel hat nicht Wahlkampf für den EVP-Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker gemacht, nicht Wahlkampf für den europäischen CDU-Frontmann David McAllister, sondern sie hat Wahlkampf mit sich selbst gemacht - also mit einer Person, die überhaupt nicht zur Wahl steht. Mal abgesehen davon, dass Merkel damit als Bundeskanzlerin reichlich schamlos das zentralste demokratisches Grundrecht - eine Wahl - banalisiert hat, lautet ihre Botschaft: Wer Kommissionspräsident wird und wer nicht, das bestimmen im Zweifel immer noch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und nicht das Europäische Parlament.