Samstagnacht war es wieder so weit: Sirenen heulten durch die Nacht, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Wer den Knall am Besiktas-Stadion gehört hatte, klebte schon auf dem Kurznachrichtendienst Twitter gierig nach kleinsten Informationskrümeln, oder schrieb hektisch mit Freunden und Familienmitgliedern, die fragten: Bist Du in Sicherheit? Wieder gingen die Istanbul in dieser Nacht mit einer still-traurigen Fassungslosigkeit ins Bett und wachten am nächsten Tag mit einem Gefühl der Zermürbung auf. Die Anzahl der Toten ist mittlerweile auf 44 gestiegen.
Es ist der vierte große Anschlag dieses Jahr auf die Stadt. Im Januar tötete eine Bombe 13 deutsche Touristen an der Sultan-Ahmed-Moschee. Im März explodierte ein Sprengsatz auf der belebten Istiklal im Zentrum der Stadt und zwei Monate später folgte der Anschlag auf den Ataturk-Flughafen.
Terror ist 2016 in Istanbul zur Routine geworden. Im Rest des Landes sieht es nicht viel besser aus: Zu den Anschlägen in Istanbul, die international wahrgenommen werden, kommen noch zahlreiche in Ankara, Diyarbakir und anderen Städten des Landes. Gerade immer dann, wenn etwas Ruhe eingekehrt war, die Menschen wieder Hoffnung schöpften - der nächste Knall.
Die Türkei blutet - und 2017 wird die Wunde nicht heilen.
Zu behaupten, der Anschlag nutze Erdoğan, ist zynisch und vor allem falsch: Zwar trafen sich am Tag nach dem Anschlag auch wieder Demonstranten am Anschlagsort und forderten die Wiedereinführung der Todesstrafe. Den Großteil der Türken aber verunsichern die Anschläge. Eine Destabilisierung des Landes nützt niemanden, und nichts kann Attentate rechtfertigen. Bomben auf Zivilisten oder in diesem Fall Polizisten sind nicht "Teil irgendeines bewaffneten Kampfes" - sie sind Terror und nichts anderes.
Definitionen und Zusammenhänge
In Asien nannte man sie „amucos“ - Krieger, die den Feind ohne Angst vor dem Tod angreifen und vernichten. Heute beschreibt der Begriff in der Regel blindwütige Aggressionen – mit und ohne Todesopfer. Die meisten Amokläufer sind männlich und eigentlich unauffällig, in vielen Fällen ledig oder geschieden. Neben psychisch kranken Tätern gibt es auch Amokläufer, die aus banalen Gründen plötzlich ausrasten. Angst, Demütigung oder Eifersucht haben sich oft lange aufgestaut, bevor es zur Katastrophe kommt. Teils werden Taten auch im Kopf durchgespielt. „Amok“ kommt aus dem Malaiischen und bedeutet „wütend“ oder „rasend“.
Attentate sind politisch oder ideologisch motivierte Anschläge auf das Leben eines Menschen, meistens auf im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeiten. Der Ausdruck „Attentäter“ wiederum wird auch für Menschen verwendet, die einen Anschlag auf mehrere Menschen begehen. Terroristische Attentäter zielen etwa auf Angehörige eines ihnen verhassten Systems oder einer Religion ab. Mit Anschlägen auf öffentlichen Plätzen, in Verkehrsmitteln oder auf Feste versuchen sie, in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten. Der Begriff „Attentat“ leitet sich vom lateinischen attentare (versuchen) im Sinne eines versuchten Verbrechens ab.
Terrorismus ist politisch motivierte, systematisch geplante Gewalt, die sich gegen den gesellschaftlichen Status quo richtet und auf politische, religiöse oder ideologische Veränderung ausgerichtet ist. Dass Terroristen töten und zerstören, ist Mittel zum Zweck. Sie wollen vor allem Verunsicherung in die Gesellschaft tragen. Terrorakte richten sich oft gegen die Zivilbevölkerung oder symbolträchtige Ziele.
Terror geht auf das lateinische Wort „terrere“ zurück, was „erschrecken“ oder „einschüchtern“ bedeutet. Terror und Terrorismus werden oft gleichbedeutend verwendet. Im Unterschied zum Terrorismus bezeichnet der Begriff „Terror“ aber eher das Machtinstrumentarium eines Staates. Der „Terror von oben“ steht für eine Schreckensherrschaft, die willkürlich und systematisch Gewalt ausübt, um Bürger und oppositionelle Gruppen einzuschüchtern. Auch in die Umgangssprache hat der Begriff Eingang gefunden - etwa für extreme Belästigung, zum Beispiel Telefonterror.
Gleichzeitig kann und muss man auch von nicht-beabsichtigten Folgen politischen Handelns sprechen, die das Land in diese Lage gebracht haben. Daran sind mehrere Akteure beteiligt.
Einen Tag vor dem Anschlag, zu dem sich die TAP, eine gewalttätige Splittergruppe der PKK bekannt hat, gab die Regierung erste Pläne zum geplanten Umbau der Verfassung bekannt. Voraussichtlich im Frühjahr dieses Jahres soll ein Referendum stattfinden, dass dem Präsidenten mehr Befugnisse einräumt, unter anderem seine parteipolitische Neutralität aufhebt (die faktisch ohnehin nie vorhanden war, seitdem Erdoğan Präsident ist). Das Amt des Ministerpräsidenten wird es dann nicht mehr geben. Stattdessen bestimmt er zwei Stellvertreter und die Minister.
2019 dann sollen Wahlen folgen, bei denen der Präsident direkt vom Volk gewählt wird.
Für die Verfassungsänderung braucht Erdoğan 330 Stimmen der 550 Abgeordneten. Die AKP hat alleine 316 Abgeordnete, ist also auf die Stimmen einer zweiten Partei angewiesen. Lange setzte Erdoğan auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit seiner eigenen Partei. Als aber im November 2015 die HDP wieder in das Parlament mit 10,8 Prozent einzog, schien er, seine Strategie zu überdenken. Die benötigten Stimmen fand er schließlich in der nationalistischen MHP, die seit jeher einen harten Kurs gegenüber den Kurden befürwortet. Eine härtere Gangart gegenüber den Kurden sei der Preis, den Erdoğan für die 39 Stimmen der MHP bezahle, meinen Beobachter. Das ist mehr als tragisch: Denn die AKP hatte lange Jahre die Sache der Kurden unterstützt - nie zuvor waren die Rechte der kurdischen Bevölkerung größer gewesen als während der AKP-Regierung, weshalb die Partei auch heute noch von großen Teil der kurdischen Bevölkerung gewählt wird.
Nicht nur politisch blickt das Land unruhigen Zeiten entgegen
Seitdem strategischen Schwenk eskaliert der Konflikt auf beiden Seiten.
Die Regierung wirft der HDP vor, sich nicht ausreichend von der Terrororganisation PKK zu distanzieren.
Die Lage verschärfte sich weiter, als Anfang November fast die gesamte Führungsspitze der HDP inhaftiert wurde, weil sie der Unterstützung terroristischer Organisationen verdächtig wurden. In wie weit die Vorwürfe gerechtfertigt sind, muss noch geklärt werden.
An der absteigenden Gewaltspirale wird sich vorerst nichts ändern. "Unsere dringlichste Aufgabe ist, Rache zu nehmen", sagte Innenminister Süleyman Soylu. Am heutigen Montag wurden abermals 118 Politiker festgenommen. Kampfjets flogen Angriffe gegen Stellungen der PKK im Südosten des Landes. Die PKK oder TAP wird aller Voraussicht nach mit Attentaten zurückschlagen.
Hinzu kommt noch die Gefahr durch den Islamischen Staat. Der IS hatte erst vergangene Woche die Türkei zum bevorzugten Anschlagsziel erklärt.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Nicht nur politisch blickt das Land unruhigen Zeiten entgegen. Denn die Unsicherheit beginnt, sich mehr und mehr auf die Wirtschaft des Landes auszuwirken. Gerade veröffentlichte Zahlen belegen, dass die türkische Wirtschaft im dritten Quartal dieses Jahres um 1,8 Prozent geschrumpft ist - zum ersten Mal seit sieben Jahren. Die Gründe sind vor allem im schrumpfenden Konsum zu suchen. Aber beruhigt sich die politische Lage des Landes sich nicht nachhaltig bald wieder, wird das auch auf die Investitionen durchschlagen. Touristen bleiben schon jetzt aus. Die Lira hat seit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten um zehn Prozent und seit Mai 2016 um 20 Prozent verloren.
Keine gute, aber leider momentan die bestmögliche Alternative für Stabilität scheint ausgerechnet in einer Ausweitung der Macht Erdoğans zu bestehen, sagen jetzt sogar Erdogan-Kritiker. Sollte die Verfassungsänderung unter Dach und Fach sein, könnte das Land endlich zur Ruhe kommen, und die einst begonnene Reform-Agenda fortsetzen, die das rasante Wachstum in den Nuller-Jahren ermöglichte und nebenbei Minderheitenrechte stärkte.