Theresa May in Davos Die drei größten Herausforderungen für Europa

Nach dem Brexit ist vor der Charmeoffensive: Die britische Premierministerin Theresa May sendet Europa und der Welt auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum ein Zeichen der Umarmung. Dahinter verbirgt sich eine bittersüße Versuchung: Könnte Europa als Patchwork-Familie besser funktionieren? Das sind die größten Baustellen, die auf Europa zukommen.

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Die britische Premierministerin Theresa May. Quelle: AP

Es gibt Umarmungen, die können so überschwänglich ausfallen, dass sie den Umarmten am Ende eher erdrücken als ehrlich zu herzen. Eine solche Umarmung hat an diesem Vormittag beim Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos die britische Premierministerin Theresa May der Europäischen Union zuteilwerden lassen.

Es ist zwei Tage nach ihrer historischen Rede in London, bei der die Frontfrau der konservativen Tories einen harten Brexit, also einen Ausstieg aus der Europäischen Union ohne Verbleib im gemeinsamen Binnenmarkt, ankündigte. May tritt vor die zum Bersten gefüllte Kongresshalle des Forums. Einen dreiviertelstündigen Solo-Auftritt hat sie spendiert bekommen. Zu groß ist die Zahl der Fragen, die die Anzugträger im Auditorium seit Dienstag haben. Bedeutet harter Brexit auch Isolation? Das Ende des Freihandels im Königsreich? Eine neue Achse May-Trump gegen etablierte internationale Gepflogenheiten?

May kennt die Ängste und ist offensichtlich bestrebt, sie mit ihrem Charme weg zu bügeln. Ihre Stimme tremoliert nahezu, als sie ihre ersten Sätze spricht. „Die Weltwirtschaft gedeiht auf der Basis von freiem Handel, Globalisierung und Kooperation“, sagt May. „Freihandel ist der Schlüssel zu neuem Wohlstand. Kräfte am ganz linken und am ganz rechten Ende des politischen Spektrums versuchen das zu hinterfragen. Das sollten wir nicht zulassen.“

Spürbar geht ein Aufatmen durch die Zuhörer. May, das ist an diesem Vormittag von Anfang an klar, möchte die Europäische Union verlassen – sich aber nicht von der (Wirtschafts-)Welt abschotten. Oder, wie sie es selbst ausdrückt: „Großbritannien wird der stärkste Anwalt von wirtschaftlichem Denken und freiem Handel bleiben, den Sie sich vorstellen können.“

Und wer ihre Brexit-Rede vom Dienstag als Abkehr von Europa gedeutet hat, soll hier beruhigt werden. „Viele unserer europäischen Freunde glauben, wir hätten ihnen den Rücken gekehrt“, sagt May. „Aber unsere Entscheidung, die EU zu verlassen, ist nicht gegen unsere europäischen Freunde gerichtet. Wir wollen uns nicht von Europa entfernen.“ Ihr Land wolle vielmehr seine Demokratie stärken und das nationale Selbstbestimmungsrecht zurückgewinnen. „Aber wir bleiben eine globalisierungsfreundliche, handeltreibende Nation. Und wir sind stolz auf unser europäisches Erbe.“

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Brexit-Demonstranten in Großbritannien Quelle: REUTERS
Britische Pfundnoten Quelle: dpa
In Großbritannien beliebt: der Brotaufstrich Marmite. Quelle: dpa
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Der britische Finanzminister Philip Hammond und die Premierministerin Theresa May Quelle: REUTERS
British-Airways-Maschine Quelle: AP
Touristen in London Quelle: dpa

Und dann folgt ein Satz, der jenen, die Europa vor allem von Brüssel aus denken, womöglich noch manche unruhige Nacht bescheren wird. „Wir haben nun die Freiheit, Handelsverträge mit unseren Freunden zu schließen. Unsere Partner im Commonwealth haben das zugesagt, große Nationen wie China oder die Golf-Staaten Interesse signalisiert.“ Mit ihnen will May – und das scheint sich mit allem, was man über die handelspolitischen Pläne des angehenden US-Präsidenten Donald Trump weiß, zu decken – bilaterale Handelsabkommen schließen. Und nach selbigem Muster mit den europäischen Partnern verfahren.

Das Ergebnis wäre: Europa als Patchwork-Familie, eine Art Europapolitik à la Carte, bei dem sich jedes Land mit jedem anderen Land neu auf Standards der Zusammenarbeit verständigt. Eine Art Deal-Economy im politischen Raum. „Wir brauchen eine neue Aufstellung, auch in Europa: Was funktioniert, sollten wir stärken. Was nicht funktioniert, sollten wir ändern.“

"Sonst fliegt Europa auseinander"

Offiziell verneinen die Vertreter der Mitgliedsstaaten, an dieser Art der Zusammenarbeit in irgendeiner Form interessiert zu sein. „Willkürpolitik statt Freihandel“ sei das, zischt ein Brüsseler Vertreter in Davos. Nur: Mays Vorstoß läuft in eine offene Flanke der Europäer, die in Davos offenkundig wird. Die bisherige Form der ritualisierten Zusammenarbeit hat immer weniger Freunde. In der Wirtschaft, wie in der Politik. „Ich bin vor dem zweiten Weltkrieg geboren, ich weiß welche Errungenschaften die Europäische Union uns gebracht hat. Deswegen wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie zu hinterfragen. Aber ich bin auch Demokrat und deswegen müssen wir das Votum der Briten ernst nehmen“, sagt etwa der Präsident des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab. Und leitet daraus Handlungsbedarf ab.

Selbst eingefleischte Brüsseler wie der Vize-Präsident der Europäischen Kommission wirken nachdenklich, wenn er sagt: „Mein Sohn hat mich letztens morgens zum Frühstück begrüßt mit den Worten: ‚Na du gesichtsloser, nicht gewählter Bürokrat‘. Ich möchte nicht, dass sich dieser Eindruck festsetzt.“ Und unter anderem deswegen kristallisieren sich immer stärker jene Baustellen heraus, an denen Europa in den nächsten Monaten wird arbeiten müssen, wenn die Legitimation der Gemeinschaft nicht erodieren sollen. „Die nächsten zwölf Monate werden dafür entscheidend sein. Sonst fliegt Europa auseinander“, sagt einer von Mays Kollegen unter den EU-Regierungschefs am Rande einer Diskussionsrunde in Davos.

Und das dürften die Baustellen sein:

1. Die Nation wird wieder wichtiger

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Man muss die Position des US-Ökonomen und ehemaligen Präsidentenberaters Larry Summers nicht teilen, der sagt: „Die Kritik an Globalisierung und europäischer Einigung liegt nicht an wachsender Ungleichheit sondern daran, dass sich mehr Menschen wieder nach einer Stärkung der Nation sehnen.“

Und doch enthält sie eine wahre Beschreibung, sagen die meisten Davos-Teilnehmer: Das Thema Nation wird wieder wichtiger. Nicht nur May redet von der „Rückgewinnung des nationalen Selbstbestimmungsrechts“ und sagt: „Es braucht eine aktive, starke Regierung. Sonst verlieren die Menschen das Vertrauen.“ Das ist in wirtschaftlicher Hinsicht aus zweierlei Gründen interessant: Es kehrt die Machtverhältnisse in Europa zurück von Brüssel in die Hauptstädte. Und es deutet darauf hin, dass die freien Kräfte des Marktes in absehbarer Zeit wieder politische Gegenspieler bekommen.

„Es braucht“, sagt auch EU-Kommissions-Vize Timmermans, „wieder klare Verantwortlichkeiten. Der Moral Hazard in der EU, wo jeder den anderen für Fehlentwicklungen verantwortlich macht und die Gesellschaft am Ende nicht weiß, wen sie verantwortlich machen kann.“ Und selbst der scheidende EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sagt: „Das Doppelspiel der Regierungschefs muss aufhören. Die Verantwortlichkeiten müssen klar sein.“ Und aus der italienischen Delegation heißt es: „Womöglich liegen auch Chancen darin, wenn die einzelnen Länder in Fragen des Handels wieder bilateral verhandeln – dann hat ein Land wie Deutschland nicht mehr die Chance, alle zu einer Politik zu zwingen, die vor allem ihnen nützt.“

Und die Chefin der spanischen Großbank Santander, Ana Botin, sagt: „Es wäre wichtig, dass wir uns wieder darauf besinnen, dass jedes Land etwas anderes kann und darin Europas Stärke liegt: Wenn alle nur Autos exportieren, gibt es niemanden mehr der Autos kauft. Und das müssen wir für die gesamte Politik in Europa berücksichtigen.“

„Wenn diese Länder sich nicht ändern, hat Europa große Probleme“

2. Reformen angehen, Regeln einhalten

Mark Rutte, der Regierungschefs der Niederlande, ist jemand, der im Kreis von Europas Regierungschef nicht oft auffällt. Meist hält er zu den Deutschen, ansonsten ist er froh, wenn er nicht als zu polarisierend wahrgenommen wird. Nun aber sitzt er auf einem dieser unzähligen Podien dieser Tage in Davos und spricht recht deutliche Worte. Er sieht die Verantwortung für das Auseinanderdriften der EU vor allem im Süden. „Frankreich und Italien müssen endlich die nötigen wirtschaftlichen Reformen durchsetzen“, sagt Rute. „Wenn diese Länder sich nicht ändern, hat Europa große Probleme.“

Unter den Managern in Davos sagt das niemand so offen, aber auch hier heißt es: Die Regeln müssen eingehalten werden oder so angepasst werden, dass sie einzuhalten sind. Sonst habe Europa keine Zukunft. Was damit gemeint ist? Stabilitätspakt, wirtschaftliche Reformen. Durchaus aber auch ein Eingeständnis Deutschlands, es mit der europäischen Solidarität weiter ernst zu halten.

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3. Lieber grobe Leitplanken, an die sich alle halten, als Mikromanagement, das alle ignorieren

Einer, der den Zustand Europas kritisch und dennoch konstruktiv sieht, ist Österreichs Bundeskanzler Christian Kern. Seit achteinhalb Monaten gehört der Sozialdemokrat mit Manager-Vorleben dem Kreis der Regierungschefs an. Und er glaubt: So wie bisher kann es in Europa nicht weitergehen. Es ziehe sich eine Schwerfälligkeit durch viele Politikbereich der EU, findet Kern, die womöglich auch daran liege, dass viel Mikromanagement betrieben werde, anstatt sich auf die großen Leitlinien zu einigen, die dann allen den Weg vorgäben. Als Beispiel nennt er die europäische Stahlpolitik: Während Europa sich über Grundsatzdiskussionen, wie man mit chinesischen Billigimporten umzugehen habe, weil jedes Land Chinas Status als Marktwirtschaft anders definiere, gingen Jahr für Jahr 30.000 Jobs in Europas Stahlindustrie verloren. Mit einer Wirtschaftspolitik, die sich auf die großen Frage konzentriere und hinter der sich alle versammeln könnten, passiere das womöglich nicht. Ändere sich das nicht, „dann steht Europa vor wirklich großen Problemen.“

Und der niederländische Ministerpräsident Rutte findet, Europas Mikromanagement für zu einer solchen Vielzahl an Regeln, die dann nicht mehr überwachbar seien: „Zu wenige Länder tun dann, was sie tun sollten. Und dann hält Europa sein Versprechen nicht, die Gesellschaften des Kontinents auf ein neues Level des Wohlstands zu heben.“

Ob diese Reformen kommen? Und ob der Veränderungsdruck groß genug ist? Womöglich hat ausgerechnet May den Europäern nun keine Wahl gelassen, sich dieser Debatte zu stellen. Sie jedenfalls ist optimistisch, als sie in Davos ihre Rede beendet: Das Vereinigte Königreich wird gestärkt aus diesen Herausforderungen gehen, als wahrlich weltoffenes Land. Und als Freund Europas.“

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