Warum gab es ohne jede Vorwarnung die Ankündigung für vorgezogene Wahlen in Großbritannien?
May wollte sich ein eigenes Mandat für die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen sichern und sich gleichzeitig die aktuelle Schwäche der oppositionellen Labour-Partei zu Nutze machen. Schon lange hatten konservative Kommentatoren und Berater ihr empfohlen, bald Wahlen anzuberaumen. Denn die Premierministerin hat im Parlament nur eine dünne Mehrheit von zwölf Mandaten. In den Umfragen liegen die Konservativen mit Zustimmungsraten von 42 Prozent jedoch deutlich vor der Labour-Partei, die mit nur 27 Prozent derzeit unter der Führung von Jeremy Corbyn als nahezu chancenlos gilt.
Was bedeutet dies für die Brexit-Verhandlungen?
Mays befürwortet einen harten Ausstieg aus der EU: Sie will den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Doch beim Referendum im letzten Sommer stimmten die Briten nur über den Abschied aus der EU allgemein ab – die Details blieben offen. Mays größtes Problem war immer, dass sie als nicht gewählte Regierungschefin über kein Mandat für die von ihr favorisierte Form des Brexit verfügte. Sollte sie im Juni bei den Parlamentswahlen eine Mehrheit erhalten und sich womöglich mehr Mandate sichern können als ihr Vorgänger Cameron ginge sie damit gestärkt in die Brexit-Verhandlungen mit den übrigen 27 EU-Staaten und der EU-Kommission. Außerdem sagte May nun ausdrücklich, sie wolle sich im Vorfeld der heißen Phase der Verhandlungen demokratisch legitimieren lassen. Nach den Wahlen hat sie damit auch bessere Argumente gegen die britischen Brexit-Gegner im Unterhaus und im Oberhaus in der Hand. Sie wird so auch versuchen, die schottischen Nationalisten zu disziplinieren.
Was sind die nächsten Schritte?
Am morgigen Mittwoch soll das Unterhaus über die Auflösung des Parlaments und den von May vorgeschlagenen Wahltermin am 8. Juni abstimmen. Um ihr Vorhaben durchzusetzen, benötigt May die Zustimmung von Zweidritteln der Parlamentarier. Denn unter David Cameron war das Wahlgesetz reformiert und feste fünfjährige Legislaturperioden eingeführt worden. Seither war es für britische Premierminister nicht mehr möglich, die Briten nach eigenem Gutdünken zu einem beliebigen Zeitpunkt an die Urnen zu rufen. Nur ein Misstrauensvotum gegen die Regierung oder eine Zweidrittelmehrheit im Parlament kann jetzt zu vorgezogenen Neuwahlen führen. Da Cameron die Briten erst 2015 zu den Urnen gerufen hatte, wären die nächsten Wahlen planmäßig im Mai 2020 fällig gewesen.
Der Brexit-Fahrplan
Laut Barnier sollen bis Oktober 2018 die Details für den Austritt Großbritanniens ausverhandelt sein. Der Franzose hat diesen Zeitplan bereits als sehr ambitioniert bezeichnet. Andere Experten halten ihn angesichts der Fülle der Problemfelder für unmöglich. Womöglich wird es deshalb zahlreiche Übergangsfristen von etwa zwei bis fünf Jahren geben.
Die schottische Regierung will im Herbst 2018 ein zweites Referendum über den Verbleib im Vereinigten Königreich abhalten, sobald die Bedingungen für den Brexit klar sind. May hat dies abgelehnt.
Bis März 2019 wäre dann Zeit, damit Mitgliedsländer und EU-Parlament die Vereinbarung ratifizieren. Der Tag des Austritts Großbritanniens aus der EU wäre dann Samstag, der 30. März.
Unklar ist, wann die umfassenderen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abgeschlossen sind. May strebt ein Freihandelsabkommen mit der EU innerhalb weniger Jahre an, über das schon parallel zum Brexit verhandelt werden soll. Dagegen verweist die EU-Kommission auf die Erfahrung aus anderen Abkommen wie etwa mit Kanada (Ceta), über das sechs Jahre lang verhandelt wurde. Im Ceta-Vertrag sind allerdings keine Vereinbarungen über den komplexen Bereich der Finanzdienstleistungen enthalten, die für Großbritannien und den Finanzplatz London von enormer Bedeutung sind.
Wie groß sind die Chancen, dass May mit ihrem Plan durchkommt?
Sehr groß. Aller Vorrausicht nach wird sie morgen die erforderliche Zweidrittelmehrheit erhalten. Denn Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte in der Vergangenheit stets betont, er sei jederzeit bereit und in der Lage, sich Wahlen zu stellen. May will ihn nun beim Wort nehmen. Die Liberaldemokraten – die gemeinsam mit den schottischen Nationalisten gegen den Brexit sind – werden die Gelegenheit für Neuwahlen begrüßen. Denn sie können auf die Stimmen der Proeuropäer hoffen und werden versuchen, ihre Wahlschlappe von 2015 wettzumachen.
Cameron hatte sich für Verbleib der Briten stark gemacht
Wie geht es danach weiter?
Erhält May die erforderliche Mehrheit zur Auflösung des Parlaments, so wird sie sich anschließend unverzüglich zu Königin Elisabeth in den Buckingham Palace fahren lassen. Denn rein formal ist die Queen diejenige, die den Regierungschef abberufen muss. Erst am 13. Juli 2016 – also vor acht Monaten – hatte May von der Queen den Regierungsauftrag erhalten. Sie war damals überraschend schnell zur Nachfolgerin von David Cameron ernannt worden, der am 24. Juni unmittelbar im Anschluss an das EU-Referendum zurückgetreten war.
Cameron hatte sich für den Verbleib der Briten in der EU stark gemacht. Der innerparteiliche Kampf um seine Nachfolge wurde unerwartet kurzfristig entschieden – die bisherige Innenministerin zog in die 10 Downing Street ein.
Was der Abschied der Briten bedeutet
Er gilt als das Herzstück der Europäischen Union seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 und der Europäischen Zollunion 1968. Großbritannien trat 1973 bei. Vollendet wurde der Binnenmarkt mit dem Vertrag von Maastricht 1992. Als Eckpfeiler gelten die „vier Freiheiten“: Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Das heißt, die gut 500 Millionen EU-Bürger können in den 28 EU-Staaten kaufen, arbeiten und investieren, wo sie wollen.
Die EU-Länder erkennen gegenseitig ihre Regeln an und alle gemeinsam die EU-Richtlinien und Verordnungen. Die EU-Kommission ist die Überwachungsinstanz. Sie maßregelt Länder, die den Wettbewerb verzerren, ob nun mit Subventionen oder unfairen Steuervorteilen. Auch Kartelle nimmt Brüssel regelmäßig ins Visier. Üblich sind millionenschwere Bußgelder. Die EU-Gerichte bieten einen Rechtsweg.
Die 28 EU-Staaten machen dank gemeinsamer Regeln und Zollfreiheit untereinander weit mehr Geschäfte als mit Partnern außerhalb der Gemeinschaft. So hatte allein der Warenverkehr untereinander 2015 laut der Statistikbehörde Eurostat ein Volumen von 3,07 Billionen Euro - 71 Prozent mehr als mit dem Rest der Welt. Deutschland hat einen Anteil von gut einem Fünftel: 22,6 Prozent aller Warensendungen innerhalb der EU kommen aus Deutschland, 20,9 Prozent aller in der EU verschifften Güter enden dort.
Der Handel in der EU ist für Großbritannien weniger wichtig als für die Bundesrepublik. Sein Anteil an den innerhalb der EU versendeten Güter lag laut Eurostat 2015 bei 10,2 Prozent. Es ist auch das einzige Mitgliedsland, das innerhalb der EU weniger Handel treibt als mit Drittstaaten - gemessen jeweils an Aus- und Einfuhren zusammen.
Großbritannien bezieht trotzdem rund die Hälfte seiner importierten Waren aus der EU und liefert auch etwa die Hälfte seiner Exporte dorthin, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2015 analysierte. Noch bedeutender sind britische Dienstleistungen: Hier erwirtschaftete das Königreich 2014 laut IW in der EU einen Überschuss von 19,1 Milliarden Euro, vor allem mit Finanzdienstleistungen. Eng verwoben sind beide Seiten auch in Wertschöpfungsketten. Es werden eben nicht nur fertige Produkte gehandelt, sondern auch Teile und sogenannte Vorleistungen. Hier könnte sich ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt besonders negativ auswirken, schließt das IW.
Die britische Regierung sieht die wirtschaftlichen Vorteile und würde sie gerne weiter nutzen. Eine der vier Freiheiten macht ihr jedoch politisch zu schaffen: die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern. Allein aus Polen kamen insgesamt 870 000 Menschen. Die Brexit-Befürworter beklagen den Druck auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und wollen die Freizügigkeit stoppen. Die übrigen EU-Länder geben sich aber lhart: Zugang zum Binnenmarkt gebe es nur mit allen vier Freiheiten, „Rosinenpicken“ komme nicht in Frage.
Großbritannien ginge der ungehinderte Zugang zu einem Markt mit knapp 450 Millionen Menschen verloren. London hätte dafür bei Subventionen und Steuervorteilen freie Hand und könnte Kapital anlocken. Bei einem Ausscheiden aus der Zollunion wären wieder Zölle zwischen Großbritannien und dem Kontinent denkbar. Das Königreich könnte auch mit eigenen Handelsbündnissen, etwa mit den USA, der EU eins auswischen. Wahrscheinlich ist jedoch eine Verhandlungslösung. Premierministerin May sagte am Dienstag, sie wolle den weiteren Zugang zum Binnenmarkt mit einem „umfassenden Handelsabkommen“ sichern. Ein Zollabkommen wolle sie ebenfalls. IW-Brexit-Experte Jürgen Matthes erwartet ein Geben und Nehmen, das heißt, je mehr EU-Einfluss Großbritannien zulässt, desto mehr Marktzugang kann es erwarten. Kommen beide Seiten nicht überein, wären sie immerhin noch über die Welthandelsorganisation WTO verbunden.
Wie wird der Wahlkampf?
Extrem kurz. In nur sechs Wochen werden die Briten wählen – nach den französischen Präsidentschaftswahlen und noch vor den Bundestagswahlen in Deutschland. Der Brexit und die Zukunft Großbritanniens außerhalb der EU werden im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen. Man darf gespannt sein, ob May dafür plädieren wird, Großbritannien in ein Steuerparadies für internationale Konzerne und Banken umzufunktionieren. Innenpolitisch tritt sie nämlich für ein gerechteres und faireres Modell ein. Sie betont stets, sie wolle keine Regierungschefin für die Elite sein und stattdessen die Lage der weniger privilegierten Briten verbessern. Das dürfte dann auch im Wahlprogramm der Tories eine prominente Rolle spielen. Im Grunde aber wird sich alles um den Brexit drehen.
Welche Rolle spielt die Wirtschaft bei der Zeitplanung?
Allen Unkenrufen zum Trotz steht Großbritanniens Wirtschaft seit dem Brexit-Votum gut da. Dank des ungetrübten Optimismus der britischen Verbraucher und befeuert von der Pfundabwertung ist der erwartete Konjunktureinbruch bisher ausgeblieben. Aber es gibt bereits erste Anzeichen für ein Anziehen der Inflationsrate, auf die Dauer werden die Preise steigen und die Zuversicht der Verbraucher wird damit wohl gedämpft.
Sollten die Briten künftig keinen ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt erhalten – und darauf deutet alles hin – dann werden die Exporteure ungeachtet des schwachen Pfundes langfristig das Nachsehen haben. Das dicke Ende des Brexit für die britische Wirtschaft steht also noch bevor. May ist daher klug beraten, ihre Landsleute jetzt wählen zu lassen, wo es ihnen noch gut geht.
Wie riskant ist Mays Schritt?
In den vergangenen Monaten hatte die Premierministerin immerzu betont, sie werde sich auf die Brexit-Verhandlungen konzentrieren und sich vor allem darum bemühen, das bestmögliche Ergebnis für Großbritannien zu erzielen. Vorgezogene Wahlen hatte sie in mehreren Interviews nachdrücklich ausgeschlossen. Mit ihrer radikalen Kehrtwende, die selbst Insider überraschte, manche sogar schockierte, erwies sich May als typische Politikerin, die nach dem Motto agiert: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Damit büßt sie an Glaubwürdigkeit ein, auch wenn sie nun argumentiert, die mangelnde Geschlossenheit der Parteien in der Brexit-Frage sei der Grund dafür. Hinzu kommt: May setzt nun auf einen überzeugenden Sieg der Tories. Doch der könnte ihr verwehrt bleiben. Wahlforscher wie Professor John Curtice warnen May vor Illusionen – sie betreibe ein riskantes Spiel. Nicht zuletzt könnte sich nach dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014, den Parlamentswahlen im Mai 2015, dem EU-Referendum im letzten Jahr und den Kommunalwahlen in diesem Mai, bei den Briten Wahlmüdigkeit breit machen.
Könnte der Brexit durch die Wahl rückgängig gemacht werden?
Damit sollte man nicht rechnen. Die Tories dürften als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen und selbst die Labour-Partei will den Brexit nicht mehr stoppen. Die europafreundlichen Liberaldemokraten sind heute lediglich eine schwache Splitterpartei und die SNP tritt ja nur in Schottland an. In ihrer Ansprache Dienstagvormittag sagte es May klipp und klar: „Großbritannien verlässt die EU. Einen Rückweg gibt es nicht.“