Das türkische Bildungsministerium hat 15.200 Bedienstete wegen angeblicher Verbindungen zum gescheiterten Putschversuch entlassen. Das meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu am Dienstag. Gegen alle seien Ermittlungen eingeleitet worden, betroffen seien Bedienstete im Bildungswesen sowohl in städtischen als auch in ländlichen Regionen.
Nach dem gescheiterten Putschversuch vom Freitag hat es bereits ähnliche Aktionen in Justiz und Militär, Verwaltung und religiösen Behörden gegeben. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung werfen dem im Exil lebenden Geistlichen Fethullah Gülen und seiner Bewegung vor, hinter dem Umsturzversuch zu stecken. Gülens Bewegung habe den Staatsapparat unterwandert. Die Regierung will die Bewegung Erdogans wichtigsten Rivalens zerschlagen.
Ministerpräsident Benali Yildirim beschuldigte am Dienstag den in den USA lebenden Prediger Gülen, Chef einer geheimen Terrororganisation zu sein. "Wir werden sie an der Wurzel packen", sagte er. Die Regierung suspendierte weitere Hunderte Beamte, etwa in der Staatskanzlei, der Behörde für religiöse Angelegenheiten und dem Geheimdienst. Ihnen werden Verbindungen zu den Putschisten und zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Erdogan kündigte für Mittwoch wichtige Entscheidungen für das Land an. Zuvor tagen das Kabinett und der Nationale Sicherheitsrat.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Gülens Bewegung verbindet traditionelle islamische Werte mit einer prowestlichen Einstellung. Der Prediger hat die Vorwürfe aus Ankara strikt zurückgewiesen und den Putsch verurteilt. Die Türkei fordert seine Auslieferung aus den USA. Die Regierung in Washington macht diese von eindeutigen Beweisen abhängig.
Yildirim warf den USA bei der Bekämpfung des Terrorismus eine Doppelmoral vor. Sein Land habe der Regierung in Washington nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geholfen. Gülens Bewegung habe die Armee bereits seit den Achtzigerjahren unterwandert. Justizminister Bekir Bozdag machte Gülen verantwortlich: "Alle Beweise sprechen dafür, dass er den Putschversuch wollte und anordnete." Nach Gülens Darstellung könnte dagegen Erdogan selbst den Staatsstreich initiiert haben, um gegen Regierungskritiker vorgehen zu können.
Diskussion über Todesstrafe in der Türkei
Seit dem Putschversuch sind mehr als 6000 Soldaten und 1500 weitere Personen festgenommen worden. Allein bei der Polizei wurden 8000 Beamte suspendiert. Die Medienaufsichtsbehörde RTÜK entzog allen Fernseh- und Hörfunksendern, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen sollen, die Lizenzen.
Erdogan hat auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch gebracht. Die nationalistische Oppositionspartei MHP zeigte sich dafür offen. Sollte Erdogans AKP dazu bereit sein, würde man sich anschließen, sagte Parteichef Devlet Bahceli.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Vor allem in Europa stößt die Diskussion auf Entsetzen. So müssen nach Ansicht der Bundesregierung die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei beendet werden, sollte die Todesstrafe wiedereingeführt werden. Auch UN-Menschenrechtskommissar Seid al-Hussein sagte, dies wäre eine "ein großer Schritt in die falsche Richtung". Er forderte auch den Zugang von unabhängigen Beobachtern zu den Inhaftierten.
Angesichts des Vorgehens gegen Regierungskritiker ist es nach Einschätzung von EU-Kommissar Günther Oettinger unwahrscheinlich, dass die Türkei die angestrebte Visafreiheit für Reisen in die EU noch in diesem Jahr erhält. Erdogan müsse der EU beim Thema Rechtsstaatsprinzip entgegenkommen, sagte Oettinger den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Danach sehe es aber derzeit nicht aus. "Es kann nicht sein, dass Immunität von Abgeordneten aufgehoben wird, um sie drangsalieren zu können. Es kann nicht sein, dass Journalisten eingeschüchtert werden. Und es kann nicht sein, dass missliebige Richter zu Tausenden aus dem Verkehr gezogen werden", mahnte er.