Türkischer Minister Ömer Çelik "Sich gegen die Türkei zu stellen, wäre ein historischer Fehler"

Der türkische EU-Minister Ömer Çelik ist überzeugt, dass der Putschversuch in der Türkei ein Demokratie-Test war - und die Europäer ihn nicht bestanden hätten. Im Interview erklärt er, wann, wie und warum Ankara den Flüchtlingsdeal aufkündigen könnte.

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Mitte Juli 2016: Eine Demonstration der Erdogan-Unterstützer in Istanbul nach dem gescheiterten Putschversuch. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche Online: Die deutsch-türkischen Beziehungen haben einen Tiefpunkt erreicht. Laut eines internen Berichts des deutschen Innenministeriums ist die Türkei eine "zentrale Plattform für terroristische Aktivitäten im Nahen Osten".

Ömer Çelik: Diese Berichte entbehren jeder Grundlage. Mehr als 50 Länder kämpfen gemeinsam gegen den Islamischen Staat und schaffen es doch nicht, ihn völlig zu besiegen. Wir kämpfen gleichzeitig gegen die PKK, ISIS, die DHKP/C und die Gülen-Organisation. Wir tun das aus unserem eigenen Interesse heraus, aber natürlich auch für unsere Verbündeten. Wie können Sie die Türkei da eine "Plattform für Terrorismus" nennen? Wenn die Türkei nicht diese Gruppen bekämpfen würde, stünde Europas Sicherheit auf dem Spiel.

Seit dem gescheiterten Putsch haben sich die Türkei und die EU entfremdet. Was für eine Reaktion aus Europa hätte sich die türkische Regierung gewünscht?

Das war ein Test für die Demokratie und Europa hat schlecht abgeschnitten. Vergleichen Sie die Reaktionen auf den gescheiterten Coup doch mal mit denen nach den Attentaten auf die Satire-Zeitung Charlie Hebdo in Paris. Damals reiste der türkische Premierminister sofort nach Paris, um an einem Gedenkmarsch teilzunehmen. Von den EU-Staatschefs aber hat sich nach dem Putschversuch kein einziger bei uns blicken lassen.

Ömer Çelik.. Quelle: AP

Sie wollen von Deutschland auch mehr Unterstützung, um die Gülen-Bewegung zu bekämpfen?

Seit Jahren bekämpfen wir die PKK und wir haben der deutschen Regierung Dokumente übermittelt, die klar bewegen, welche Unternehmen und Organisationen mit der PKK verflochten sind. Nichts ist passiert! Jetzt stehen wir vor einer ähnlichen Situation und wir wollen eine schnelle und konkrete Zusammenarbeit.

Was erwarten Sie konkret von der Bundesregierung?

Es gibt Imame in Deutschland, die mit der Bewegung in Verbindung stehen. Wir fordern deren sofortige Ausweisung in die Türkei. Wir erwarten auch ein Verbot der Unternehmen und Organisationen, die Gülen nahe stehen.

Zur Person

Sind Sie sicher, dass sie genug Beweise präsentieren, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putsch steht?

Der Beweis ist doch der Putsch selbst! Das ist ja wie, wenn mich jemand mit einer Pistole bedroht, es jeder sieht, aber dann noch Fotos sehen will.

Die meisten Europäer sind vor allem darüber schockiert, dass Präsident Erdoğan die Wiedereinführung der Todesstrafe erwägt.

Diesen Wunsch hat das Volk auf der Straße geäußert.

Warum aber hat Erdoğan es aufgegriffen?

Wir haben ja noch keine Schritte unternommen. Wir haben gesagt, wir respektieren den Willen des Parlaments. Es gibt viele demokratische Länder mit Todesstrafe.

Nur ist keines dieser Länder in der EU.

Wir sind auch kein Mitglied der EU.

Wenn die Türkei die Todesstrafe wieder einführt, wird sie auch nie Mitglied werden.

Die Verhandlungen sollten auf den Kapiteln und objektiven Kriterien basieren. Politiker wie Sigmar Gabriel oder Frank-Walter Steinmeier sagen, die Türkei werde in 20 Jahren nicht Mitglied der EU sein. Das zeigt: Da ist eine Agenda hinter den Kriterien.
Die Türkei und Deutschland hatten immer sehr enge Beziehungen, die bis ins Osmanische Reich zurückreichen. Diese ausschließende Politik ist neu. Während der Verhandlungen über den Flüchtlingsdeal hatten wir mehrere hochrangige Staatsbesuche in einem Monat - jetzt kam niemand.

Sie klingen wie ein verschmähter Liebhaber. Fühlt sich die Türkei so im Moment?

Einseitige Liebe gibt es nicht, und in internationalen Beziehungen gibt es überhaupt keine Liebe. Aber wir können sagen, es gibt wenige Länder, die sich gegenseitig so gut kennen wie Deutschland und die Türkei. Die EU-Mitgliedschaft der Türkei ist gut für die Türkei und die EU - aus strategischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen. Wir arbeiten dafür, aber die EU sollte auch ihren Teil dafür tun.

"Das Resultat wird eine neue Migrationswelle sein"

Die EU sorgt sich derzeit eher um die Annäherung zwischen der Türkei und Russland. Ist Russland eine Alternative zur EU?

Wir wollen gute Beziehungen zu beiden Partnern - zum Wohle der Region. Die Türkei ist kein Land in einer normalen geographischen Lage. Wir liegen zwischen den Welten, und brauchen daher multilaterale Beziehungen. Wir haben mit einer äußerst komplizierten Lage in Syrien und dem Irak zu tun. Wann immer wir gute Beziehungen zu anderen Nachbarn haben, beschwert sich die EU, die Türkei würde den Westen verlassen.

Wie sicher ist das Flüchtlingsabkommen noch?

Wir stehen zu den Vereinbarungen vom 18. März. Dank der Aufnahmekapazität der türkischen Institutionen war Rückführungsabkommen sehr erfolgreich. Die täglichen Grenzübertritte fielen von 7000 im vergangenen Jahr auf unter 100. Ohne das Abkommen stünde Europa vor einer weiteren Flüchtlingskatastrophe. Zudem hat das Abkommen die Demokratien in Europa geschützt, da es den Aufstieg rechter Partien verhinderte.

Was passiert, wenn die syrische Stadt Aleppo fällt und sich 300.000 Menschen auf den Weg machen?

Dann stünden wir vor einer Krise, die weitaus größer wäre als die heutige.

Das ist die Gülen-Bewegung

Wird das Abkommen in diesem Fall noch funktionieren?

Die vereinbarten Mechanismen werden dann nicht mehr ausreichen.

Wollen Sie dann mehr Geld von der EU?

Wir haben bis heute 20 Milliarden Dollar für Flüchtlinge ausgegeben. Von den versprochenen drei Milliarden Euro, die die EU versprochen hat, haben wir nur 106 Millionen erhalten. Das ist absolut nicht ausreichend. Doch nicht der Betrag selbst ist wichtig, sondern die Einhaltung von Versprechen. Wir aber hören nur negative Kritik, besonders von Österreich. Unsere Bürger fragen: Warum tragen wie die Lasten der EU und müssen uns das anhören? Kommt die Visa-Freiheit nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, müssen wir das Abkommen aufkündigen.

Wann ist Ihre Deadline?

Sie war bereits im Juni.

Wie lange wollen Sie noch warten?

Nicht mehr lange. Von jetzt an fällt unsere Antwort negativ aus, wenn es darum geht, einen neuen Mechanismus zu installieren. Und das Resultat dann wird eine neue Migrationswelle sein.

Und das geschieht, wenn Aleppo fällt, das gerade von Russland bombardiert wird?

Das ist nur ein Beispiel. Es gibt auch im Irak Krisen. Migranten kommen von überall her. Deshalb brauchen wir Mechanismen zwischen Europa und der Türkei. Österreich will die Grenzen mit NATO-Soldaten schützen - doch niemand kann Grenzen schützen vor Menschen, die dem Tod entkommen wollen.

Die Türkei hätte längst die Visa-Freiheit, wenn sie ihre Anti-Terror-Gesetze angepasst hätte.

Jede Anpassung unserer Gesetze, die den Kampf gegen den Terrorismus schwächt, schadet auch der Sicherheit Europas.

Schlüsselstaat Türkei

Warum hat die Türkei denn dann das Abkommen unterzeichnet?

Seitdem haben sich die Umstände und der Terrorismus verändert. Wir sagen: Sobald sich die Situation verbessert hat, können wir bilateral mit der EU über eine Anpassung reden.

Sie möchten also mehr Zeit?

Wir können einen Konsens erreichen, wenn sich die Umstände geändert haben.

"Die türkische Wirtschaft ist robust"

Aber das Terrorismus-Problem gab es doch schon vor der Unterzeichnung des Flüchtlingsabkommens. Trotzdem haben Sie auch die Anpassung der Anti-Terror-Gesetze unterzeichnet.

Auch davor standen wir schon im Visier der Terroristen. Bitte haben Sie mehr Empathie mit der Türkei! Stellen Sie sich vor, Deutschland hätte eine Grenze zu Syrien und dem Irak, und dahinter gäbe es keine Polizei und keine Armee. Wir haben unsere Grenzen trotzdem geöffnet für Menschen, die Schutz brauchen.

Die türkische Grenze zu Syrien ist geschlossen.

Sie ist kontrolliert. Würden wir sie öffnen, kämen sofort 100.000 Menschen zu uns.

In Europa sorgen sich im Moment viele über das harte Vorgehen gegen Lehrer, Journalisten und Richter. Ist das noch verhältnismäßig?

Wir gehen mit Bedacht vor. Doch denken Sie nur einmal daran: Ein Drittel der Generäle waren am Putsch beteiligt. Viele andere erhielten Befehle und befolgten sie.

Es ist ein Verbrechen, am Putsch beteiligt gewesen zu sein. Ist es auch schon ein Verbrechen, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein?

Das werden Richter entscheiden. Wenn Sie Ihr Kind auf eine Schule schicken, und der Lehrer versucht, Ihr Kind für diese Organisation anzuwerben, dann ist das ein Verbrechen.

44 Unternehmen wurden bereits beschlagnahmt. Wie viele mehr werden folgen?

Der Prozess läuft noch. Es gibt Beweise, dass dort Geld im großen Stil gewaschen wurde. Wir gehen natürlich mit Bedacht vor, aber wir können es uns nicht leisten, Schwäche in diesem Kampf zu zeigen. Trotzdem halten wir uns an Gesetze. Hätten wir nur Rache nehmen wollen, hätten wir die Putschisten noch in der Nacht getötet. Aber wir haben sie der Justiz übergeben.

Die Türkei ist abhängig vom ausländischen Geld. Viele Investoren sind besorgt. Wie wollen Sie das Vertrauen wiederherstellen?

Jedes Land ist von ausländischen Kapital abhängig. Das ist die Globalisierung.

Sie verharmlosen. Die Türkei ist aufgrund ihrer geringen Sparquote und hohen Leistungsbilanzdefizits wesentlich abhängiger als andere Staaten.

Sie haben gesehen, wie robust die türkische Wirtschaft ist. Die Business-Community ist bester Stimmung. Der Coup hat daran nichts geändert. Wir machen weiter mit einer marktfreundlichen Politik.

Das sehen nicht alle so. Die Rating-Agentur S&P hat die Bonität der Türkei gerade gesenkt. Ist das keine Warnung?

Sie wissen doch, wie die arbeiten! Das sind ein paar Analysten. Deren Ratings haben nicht immer mit der Realität zu tun. Wir haben so viele Krisen bisher überlebt. Das türkische Volk hat die Demokratie verteidigt. Wir haben eine robuste Wirtschaft und eine stabile Regierung.  Diese Zeit sollte als Gelegenheit wahrgenommen werden, die EU sollte neue Kapitel der Beitrittsverhandlungen öffnen. Das könnte die Beziehungen verbessern. Die EU hat ihre eigenen Probleme: Der Brexit, die Erweiterung auf dem Balkan, die Krisen in Syrien und der Ukraine. Sich jetzt gegen die Türkei zu stellen, wäre ein historischer Fehler.

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