Bei seinem Kurs zu einem neuen Ungarn bereiten Orbán weniger die zahlreichen Kritiker im Ausland Kopfschmerzen. Er fürchtet sich viel mehr vor der rechtsextremen Jobbik-Partei, die bei den ungarischen Kommunalwahlen im April 2014 rund 20 Prozent der Stimmen erhielt und mit ihren antisemitischen und antiziganistischen Parolen auch die nationalistische Politik Viktor Orbáns in den Schatten stellt.
Der Umgang mit der Partei ist für Orbán schwierig. Ohne das Einbüßen von Stimmen ist eine Konfrontation fast unmöglich. Bereits bei ihrer Gründung 2003 muss ihm das klar gewesen sein, dass sie ihm gefährlich werden kann: Denn bereits damals versuchte er ihre Anhänger in seine Partei zu locken – erfolglos. Parallel zu Orbáns Erdrutsch-Wahlsiegen 2010 zog auf Anhieb auch die rechtsextreme Partei, die übersetzt „Bewegung für ein besseres Ungarn“ heißt, mit 17 Prozent ins Parlament ein. Damit als drittstärkste Kraft. Es ist also politisches Kalkül, wenn sich die Partei Viktor Orbáns der Rhetorik der Jobbik bedient und Teile der Programmatik sogar umsetzt. Im Inland kostet ihn das zwar Stimmen. Im Ausland hilft es ihm dagegen, sich als „kleineres Übel“ zu präsentieren.
„Aber auch unter Orbán ist Ungarn heute auf dem Weg in ein System, das man nur sehr eingeschränkt als Demokratie bezeichnen kann“, sagt Brunnbauer. „Es ist vielmehr eine defizitäre Demokratie, die sich nicht mehr auf der Wertebasis der Europäischen Union befindet – und Orban macht auch kein Geheimnis daraus.“ Bei einer vielbeachten Rede vor ungarischen Intellektuellen und Politikern auf der Sommeruniversität im rumänischen Tusnádfürdő erklärte Orban noch vor wenigen Monaten, dass sich Ungarn "von den liberalen Prinzipien und Methoden der Gesellschaftsorganisation, und überhaupt vom liberalen Verständnis der Gesellschaft lossagen“ müsse.
Ungarns Stärken
Ungarn ist ein Transitland mit gutem Infrastrukturangebot sowie Logistikinfrastruktur und gilt als Brückenkopf zu Ost-/Südosteuropa.
Ungarn verfügt über gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte bei niedrigem Lohnniveau.
Das Land gilt als günstiges Umfeld für Investitionen im verarbeitenden Sektor, allem voran im Kfz-Bau.
Ungarn kann zudem mit einer hohen Produktivität sowie vergleichsweise niedrigen Steuern für kleine und mittlere Unternehmen und höhere Einkommen punkten.
Die Wirtschaft des Landes profitiert von einer engen Verflechtung zu Deutschland, insbesondere Süddeutschland.
Von westlichen Werten hält er wenig und er macht auch kein Geheimnis daraus, dass er Putin und das chinesische Modell mehr bewundert als das westliche, dass er für dekadent und anational hält. „Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes brauchte es eine gewisse Zeit bis sich alle demokratischen Funktionen vollständig ausgeprägt haben. Aber Ungarn ist auf einem guten Weg und achtet – im europäischen Sinne - die christlichen Werte mit traditioneller Akzentuierung, “ sagt László Hetey, Vorsitzender der Ungarischen Vereinigung Berlin. Einem Verein, der es sich zum Ziel gemacht hat, die ungarische Sprache und Kultur zu fördern und dabei auch enge Beziehungen zu Vertretern der ungarischen Regierung in Deutschland pflegt.
Die Partei von Viktor Orban findet Hetey gut: „Die Postkommunisten haben das Land brutal heruntergewirtschaftet. 2010 war Ungarn am Rande des Bankrotts.“ Enorme ausländische Hilfen seien damals nötig gewesen. Aber die Regierung habe diese erhalten und die Kredite sogar frühzeitig zurückgezahlt. „Außerdem hat sie es geschafft, die massiven Angriffe gegen die Roma einzudämmen“, sagt Hetey. „Die Regierung macht eine sehr vorbildliche Minderheitenpolitik – das ist ein massiver Unterschied zur rechten Jobbik-Partei, die revanchistische Züge hat, eine Wiedereingliederung von abgetrennten Gebieten verlangt und massiv antisemitisch und antiziganistisch ist.“
Die umstrittenen Verfassungsänderungen
Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur mehr noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Januar 2012 zu berufen.
Die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes bekommt eine Vollmacht, um in bestimmten Fällen die Gerichte zuzuweisen.
Es soll die Möglichkeit geben, dass Wahlwerbung in privaten Medien verboten werden kann.
Wenn Obdachlose auf der Straße übernachten, können sie dafür ins Gefängnis kommen.
Die Regierungsmehrheit im Parlament erhält die Möglichkeit willkürlich über die Zuerkennung des Kirchenstatus zu entscheiden.
Der bisher von der Verfassung gewährte Schutz der Familie soll auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen, eingeengt werden.
Die Finanzautonomie der Universitäten wird durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren („Kanzler“) eingeengt.
Es gibt per Gesetz die Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.
Im Ungarn seit Orbán seien alle Minderheiten als integrative Teile des Landes anerkannt. Das ist Teil der Grundgesetzänderung von 2012 – und seit der letzten Wahl entsenden sie auch Vertreter ins ungarische Parlament. In Deutschland funktioniere das weniger gut, so der gebürtige Ungar. Das neue Grundgesetz löste die Verfassung von 1989 ab, die die demokratischen Grundrechte sicherte und Ungarn unter den westlichen Demokratien verankerte. So sind etwa die Kompetenzen des Verfassungsgerichts stark beschnitten und die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt.
Diese offizielle Regierungslinie darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch die staatlich geförderten Schulungen und Projekte letztlich nur Eliten innerhalb der Minderheiten bestimmt werden. In Ungarn lebten laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2011 mehr als 300.000 Roma - sie bilden damit die größte der 13 ethnischen Minderheiten. Die meisten von ihnen sind sozial benachteiligt und haben einen verminderten Zugang zu Bildung und politischer Aufklärung.