Viktor Orbáns schärfste Gegner sitzen dort, wo man sie am wenigsten vermutet. Im achten Bezirk nahe der Budapester Innenstadt, vor langen Jahren eine feinere Gegend, blättert von den Fassaden der Putz. Der alte und neue ungarische Ministerpräsident hat sich im Wahlkampf als Vorkämpfer des „einfachen Bürgers“ profiliert, trotzdem tat sich seine Fidesz-Partei bei den Wahlen am vergangenen Sonntag hier schwer. Landesweit reichten Orbán rund 45 Prozent der Stimmen für eine Riesenmehrheit im Parlament. Im Budapester achten Bezirk lag der Fidesz-Bewerber mit 38 Prozent gerade mal ein Prozent vor dem Kandidaten der Opposition.
Die Straßen hier sind staubig, in vielen Häuserwänden sind noch Einschusslöcher von der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 zu sehen. In einem unauffälligen Haus in einer schmalen Seitenstraße sitzt Béla Balogh, Vorsitzender der ungarischen Metallgewerkschaft, der wichtigsten Arbeitnehmervereinigung des Landes. Auf dem Parkett seines Empfangszimmers liegen schwere Teppiche. In Glasvitrinen stehen Pokale und Wimpel von internationalen Gewerkschaftstreffen. „Was Orbán macht, hat mit einer Politik für den kleinen Mann nicht das Geringste zu tun“, schimpft Balogh. Der einheitliche Einkommensteuersatz von 16 Prozent, den der Ministerpräsident eingeführt hat? „Davon profitieren vor allem Gutverdiener“, meint der Gewerkschaftler. Die staatlich verordnete Senkung der Wohnnebenkosten um 20 Prozent, auch für Strom und Fernwärme? „Das Geld fehlt den Energieversorgern jetzt für dringende notwendige Investitionen“, sagt Balogh und schlägt wütend mit der Hand auf den Tisch.
Ungarns Stärken
Ungarn ist ein Transitland mit gutem Infrastrukturangebot sowie Logistikinfrastruktur und gilt als Brückenkopf zu Ost-/Südosteuropa.
Ungarn verfügt über gut ausgebildete und motivierte Arbeitskräfte bei niedrigem Lohnniveau.
Das Land gilt als günstiges Umfeld für Investitionen im verarbeitenden Sektor, allem voran im Kfz-Bau.
Ungarn kann zudem mit einer hohen Produktivität sowie vergleichsweise niedrigen Steuern für kleine und mittlere Unternehmen und höhere Einkommen punkten.
Die Wirtschaft des Landes profitiert von einer engen Verflechtung zu Deutschland, insbesondere Süddeutschland.
Doch Orbáns Kombination von populistischer Politik und nationalistischen Sprüchen hat zum zweiten Mal hintereinander bei ungarischen Parlamentswahlen gezogen. In der Außenpolitik und der Außenwirtschaftspolitik wird es aber nicht bei Rhetorik bleiben. Die von Orbán am Wahlabend verkündete „neue, großartige Epoche“ bedeutet nicht nur wachsende Distanz zu Westeuropa – sondern auch eine stärkere Hinwendung zu Russland.
Orbán schaut nach Osten. Es vergeht seit einiger Zeit kaum ein Monat, in dem der Regierungschef nicht irgendwo in der östlichen Welt unterwegs ist. Gerade war er in Saudi-Arabien, davor in der Türkei und in China. Zusammen mit den Chinesen will er eine Bahntrasse nach Serbien bauen. Im Januar reiste Orbán nach Moskau, um mit Wladimir Putin über mögliche russische Hilfen für den Ausbau des einzigen ungarischen Atomkraftwerks zu reden. Putin sagte einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von zehn Milliarden Euro für die Modernisierung des ungarischen Meilers zu, der noch aus Sowjetzeiten stammt.
Ungarns Schwächen
Einzelne Sektoren wie Banken oder Energie haben in Ungarn mit extremen steuerlichen Belastungen zu kämpfen.
Vor allem in technischen Berufen herrscht in Ungarn Fachkräftemangel.
Trotz des günstigen Investitionsumfelds fiel die Investitionsquote Ungarns auf nur noch 17 Prozent.
Durch das schwindende Vertrauen Ungarns im Ausland sinkt der FDI-Zufluss (Foreign Direct Investment, ausländische Direktinvestitionen)
Durch die Zuspitzung der Kreditklemme im Land drohen Insolvenzen und Zahlungsausfälle.
Auch dies sieht Gewerkschaftschef Balogh mit Sorge: Was wird aus der Zusammenarbeit mit der EU? „Der Binnenmarkt hat uns gutgetan“, sagt er. Es seien doch vor allem Unternehmen aus EU-Ländern, die in Ungarn investierten und damit letztlich die Jobs schaffen würden, die Ungarn so dringend braucht.
Doch immer mehr Investoren aus dem EU-Ausland, auch aus Deutschland, sind durch Orbáns Politik verunsichert und beginnen, ihre Zelte abzubrechen. Der Energieriese RWE etwa hat seine Investitionen in Ungarn massiv zurückgeschraubt. Grund ist das Preisdiktat der Regierung, der um 15 Prozent reduzierte Strompreis für ungarische Privatkunden. „Beispiellos“ und „inakzeptabel“ nennt RWE das. Man stehe de facto kurz davor, enteignet zu werden, heißt es im Konzern.
Sondersteuer für Banken
Kaum weniger markige Worte findet Gerd Häusler für Orbáns Politik. „In Ungarn wird man fast dazu gezwungen, sein Geld zu verschleudern“, sagte der Vorstandschef der BayernLB Ende vergangenen Monats. Häusler, der zum 31. März aus dem Amt schied, musste die massiven Verluste der BayernLB mit ihrer Ungarn-Tochter MKB Bank erklären, insgesamt zwei Milliarden Euro seit 2010. Auch er sprach im Zusammenhang mit Ungarn von „Enteignung“.
Ausländische Banken zahlen in Ungarn eine Sondersteuer, die dafür sorgen soll, dass mittelfristig die Hälfte des Bankensektors in ungarische Hand gerät. Konsequenz der BayernLB: Sie will die MKB Bank verkaufen, auch wenn sie dabei noch nicht einmal den Buchwert erzielt. Die Verhandlungen mit einem potenziellen Investor sind weit fortgeschritten; der Deal könnte in den kommenden Monaten über die Bühne gehen.
Unter Orbáns willkürlichen, oft über Nacht eingeführten Sondersteuern leiden auch deutsche Handelskonzerne wie Lidl und Praktiker, die in Ungarn investiert haben. Bei einer Umfrage der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer (AHK) unter deutschen Unternehmen im Land zeigten sich 80 Prozent mit der Berechenbarkeit der ungarischen Wirtschaftspolitik unzufrieden. Beklagt werden die häufigen Änderungen der Gesetze und Steuervorschriften und die unzureichenden Übergangsfristen.
20 Milliarden Euro haben deutsche Unternehmen bis heute in Ungarn investiert. Doch derzeit ist mehr als die Hälfte der von der AHK befragten Unternehmen „unzufrieden“ oder „sehr unzufrieden“ mit der Rechtssicherheit (siehe Grafik). Transparenz und Tempo der Gesetzgebung seien nicht mehr nachvollziehbar, klagen die Firmen. Außerdem gebe es immer häufiger Probleme mit der Vereinbarkeit von nationalem Recht und EU-Recht.
Umwahrscheinlich, dass Orbán sich von solcher Kritik beirren lässt. Das passt nicht zu seiner Stilisierung als Kämpfer, der den zehn Millionen Ungarn nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Fremde Freiheit und Stolz zurückgeben will. Wie früher die Herrschaft von Türken, Habsburgern und Kommunisten müsse Ungarn heute den Einfluss ausländischer Multis und westlicher Staaten abschütteln. Für diese schlichte Botschaft feiert die Fidesz-Bewegung Orbán wie einen Messias.
Lebensstandard gesunken
Dabei ist der Lebensstandard der Ungarn objektiv betrachtet seit Orbáns Amtsantritt 2010 gesunken. Aber hat die Fidesz-Regierung nicht wenigstens die Arbeitslosigkeit kleingehalten? Vier Millionen Beschäftigte habe Ungarn; mit dieser Rekordzahl hatte sich Orbán im Wahlkampf gebrüstet. Gewerkschaftschef Balogh indes akzeptiert das nicht: Denn zu den vier Millionen gehörten 200.000 Menschen, die in einem sinnlosen öffentlichen Beschäftigungsprogramm stecken – und außerdem 400.000 Ungarn, die im Ausland arbeiten.
Diese Zahl steigt rasant. Arbeiteten 2012 beispielsweise 107.000 Ungarn in Deutschland, waren es im vergangenen Jahr schon 135.000. Auch Baloghs Bruder und Nichte leben in Deutschland. „Die würden eigentlich lieber hier in der Heimat arbeiten“, sagt er, „aber die Bedingungen sind halt schlecht.“ Fast jeder dritte junge Ungar hat zu Hause keinen Arbeitsplatz.
Ähnlich ist es mit dem Wirtschaftswachstum. Vergangenes Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,1 Prozent, 2014 dürften es sogar zwei Prozent sein. Doch Zoltán Török, Chefanalyst der Raiffeisen Bank in Budapest, weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin: Das Wachstum basiert im Wesentlichen auf öffentlichen Investitionen und staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen. Aus dem privaten Sektor kommen so gut wie keine Impulse, weder beim Konsum noch bei den Investitionen.
Bei der Erschließung neuer Geldquellen ist Orbán aber kreativ. Die private Rentenkasse verstaatlichte er im vergangenen Jahr kurzerhand – das Geld ist verbraten. Jetzt bedient er sich für seine Strohfeuer-Investitionen hauptsächlich in Brüssel. Ungarn gehört zu den größten Empfängern von EU-Hilfen. In den kommenden sieben Jahren sollen weitere rund 20 Milliarden Euro fließen.
Die nimmt Orbán bei aller Polemik gegen Brüssel gerne mit.