WirtschaftsWoche: Herr Dombrovskis, die Europäische Kommission hat im Sommer auf Strafzahlungen für Defizitländer verzichtet. Ist der EU-Stabilitätspakt noch glaubwürdig?
Dombrovskis: Es stimmt, dass wir beschlossen haben, keine Strafen gegen Spanien und Portugal zu verhängen. Man sollte aber nicht vergessen, dass es zwei Arten von Sanktionen gibt: Das eine sind Strafzahlungen, das andere ist die Aussetzung von EU-Strukturmitteln. Und über Letzteres ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Die Diskussionen zwischen der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament dauern an.
Rechnen Sie ernsthaft damit, dass diese Mittel gekürzt werden?
Richtig ist: Für Strafzahlungen gibt es keinen Präzedenzfall. Aber Strukturmittel haben wir schon einmal ausgesetzt, nämlich im Jahr 2012 für Ungarn. Die ungarische Regierung hat damals prompt den Haushalt korrigiert und notwendige Anpassungen vorgenommen – woraufhin wir die Strukturmittel freigegeben haben. Dieses Instrument wirkt also.
Bei großen Mitgliedern war die Kommission in der Vergangenheit notorisch großzügig. Frankreich muss 2017 sein Defizit unter drei Prozent drücken. Ist das realistisch, wenn Ende April Präsidentschaftswahlen anstehen?
Der französische Finanzminister Michel Sapin hat mir versichert, dass er das exzessive Defizit korrigieren wird.
Aber die französische Regierung kalkuliert mit einem viel zu optimistisch angesetzten Wachstum.
Wenn der Haushaltsplan eines Mitgliedstaats sehr weit vom Stabilitätspakt abweichen sollte, werden wir den Plan zurückschicken und Nachbesserungen fordern. Aber die Signale, die ich aus Frankreich bekomme, deuten hoffentlich darauf hin, dass dies nicht notwendig sein wird.
Athens Reparationsforderungen an Deutschland
Während des Zweiten Weltkriegs musste Griechenland den deutschen Besatzern netto umgerechnet 476 Millionen Reichsmark zur Verfügung stellen. Die heutige griechische Regierung interpretiert das als "Zwangsanleihe", die heute noch rückzahlbar sei.
1953 verschob das Londoner Schuldenabkommen die Regelung deutscher Reparationen auf die Zeit nach Abschluss eines „förmlichen Friedensvertrages“. Das Londoner Moratorium wurde 1990 durch den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ gegenstandslos. Die Staaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) - darunter Griechenland - stimmten 1990 der „Charta von Paris“ für eine neue friedliche Ordnung in Europa zu.
Nach Auffassung Berlins ergibt sich aus der Zustimmung zur „abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland“ in der Charta, dass die Reparationsfrage nicht mehr geregelt werden sollte. In Athen wird dagegen argumentiert, die Entschädigungsfrage sei ungeklärt, denn die Unterzeichner hätten den Vertrag nur zur Kenntnis genommen.
2003 wies der Bundesgerichtshof (BGH) Forderungen wegen eines SS-Massakers in Distomo von 1944 ab. Ansprüche der Hinterbliebenen ließen sich weder aus dem Völkerrecht noch aus deutschem Amtshaftungsrecht ableiten. 2006 bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung und nahm eine Klage von vier Griechen nicht zur Entscheidung an.
Ein griechisches Gericht sprach 1997 Nachkommen der Opfer knapp 29 Millionen Euro zu. Laut BGH verstößt das Urteil aber gegen den Völkerrechtsgrundsatz der Staatenimmunität. Danach darf ein Staat nicht über einen anderen zu Gericht sitzen. Diesen Grundsatz hatten 2002 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und - in einem ähnlichen Fall - das Oberste Sondergericht Griechenlands bestätigt. Damit habe das griechische Urteil in Deutschland keine Rechtskraft, befand der BGH.
In den vergangenen zwei Jahren haben Experten des griechischen Finanzministeriums und der Zentralbank in Athen die Höhe der Reparationen aus griechischer Sicht berechnet. In einer Studie, die die griechische Sonntagszeitung „To Vima“ im März 2015 veröffentlicht hatte, wurden die Gesamtforderungen auf zwischen 269 und 332 Milliarden Euro beziffert. Der griechische Vize-Finanzminister Dimitris Mardas nannte am 6. April dann in einer Rede vor dem Parlament nach einer ersten Auswertung des zuständigen Parlamentsausschusses eine Summe von 278,7 Milliarden Euro.
Deutschland vereinbarte zur Wiedergutmachung für NS-Unrecht Ende der 1950er Jahre Entschädigungsabkommen mit zwölf Ländern. Athen bekam 1960 Reparationen in Höhe von 115 Millionen D-Mark. Bereits in diesem Vertrag ist laut Bundesregierung festgehalten, dass die Wiedergutmachung abschließend geregelt sei. Doch verlangten griechische Politiker weiterhin Reparationen. 2014 wurde die Forderung nach Entschädigungen auch beim Athen-Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck laut. Die Bundesregierung wies die Ansprüche zurück. Athens Forderungen seien geregelt, heißt es bis heute.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat kürzlich der griechischen Wirtschaft ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. Bleibt das Land ein ewiger Problemfall?
Griechenland bereitet mir Sorge, weil es das einzige Land in der Euro-Zone mit einem Hilfsprogramm ist und es das zweite Hilfsprogramm nicht erfolgreich beendet hat. Aber es gibt gute Nachrichten: Im zweiten Quartal ist Griechenlands Wirtschaft wieder gewachsen. Es könnte nächstes Jahr so weitergehen, wenn die Reformen weiter umgesetzt werden. Wir gehen davon aus, dass Griechenland 2016 sein Haushaltsziel – einen Primärüberschuss von 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – erfüllen wird.
Drittes Rettungsprogramm für Griechenland
Aber die Strukturprobleme bleiben. Der IWF kritisiert, dass nur noch 25 Prozent der fälligen griechischen Steuern eingetrieben werden. 2010 waren es noch 50 Prozent.
Die Steuereintreibung ist eines der Probleme. Wir leisten dazu aber technische Hilfe.
Will der IWF zu verstehen geben, dass er sich am dritten Rettungsprogramm für Griechenland nicht mehr beteiligen wird?
Wir arbeiten daran, dass der IWF mit an Bord bleibt. Mehr werden wir wissen, wenn wir die zweite Überprüfung des laufenden Programms abschließen. Das soll in diesem Herbst passieren. Allerdings sind Prognosen schwierig. Die vorherige Überprüfung sollte im November vergangenen Jahres beendet sein und zog sich in den Juni.
Der Euro bleibt eine große Baustelle. Was planen Sie, um die Währung zu stärken?
Wir wollen die Bankenunion vervollständigen. Die beiden ersten Säulen stehen schon, Bankenaufsicht und -abwicklung. Die dritte Säule, die gemeinsame Einlagensicherung, haben wir schon vorgeschlagen – mit der Maßgabe, dass wir die Risiken im Bankensektor senken müssen, wenn wir sie vergemeinschaften. Deswegen werden wir bis Ende des Jahres einen Vorschlag zu Kapitalanforderungen bei den Banken vorlegen.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Die Euro-Zone ist aber immer noch schlecht gegen Schocks in Ländern gewappnet.
Die EU-Kommission bereitet für kommenden März ein Weißbuch mit weiteren Schritten zur Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion vor. Eine Diskussion bezieht sich auf einen Stabilisierungsmechanismus. Der ist auch als Fiskalkapazität bekannt. Eine Variante wäre, etwa Kredite an Krisenstaaten zu vergeben, um Investitionen zu unterstützen. Auf diese Weise würde man Kreditengpässe vermeiden, die das Wachstum weiter schwächen. Stattdessen würden Investitionen gestärkt – und dauerhafte Fiskaltransfers zwischen EU-Mitgliedstaaten vermieden. Eine andere Variante ist die europäische Arbeitslosenversicherung …
… die in Berlin abgelehnt wird. Zu Unrecht?
Die Diskussionen dauern noch an, und es gibt Finanzminister, die eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung bevorzugen. Andere sind einer anderen Meinung. Ich selbst plädiere für die Investitionsvariante.