Herr Ministerpräsident, warum haben Sie Helmut Kohl in Oggersheim besucht?
Uns verbindet eine langjährige Freundschaft, wir Ungarn schätzen ihn sehr. Aber wenn sich zwei Politiker treffen, wird natürlich auch über Politik geredet. Ich will allerdings auf keinen Fall in die deutsche Innenpolitik eingreifen.
Was kam denn zur Sprache?
Europa, immer Europa!
Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker des Flüchtlingskurses von Kanzlerin Angela Merkel. Ist Ihnen klar, dass viele Ihr Treffen mit Kohl als Affront gegen Merkel sehen?
Ich unterhalte mich mit allen gern. Helmut Kohl ist über uns erhaben, noch dazu geht man nicht ohne Einladung zu einer Dame.
Zur Person
Viktor Orbán, 52, ist seit 2010 ungarischer Ministerpräsident. Unter seiner Führung wandelte sich der einst liberale Fidesz zu einer nationalkonservativen Partei. Schon von 1998 bis 2002 war der Jurist Regierungschef, verlor dann allerdings die Wahlen. Während der Wendejahre war Orbán einer der treibenden Reformer Ungarns.
War Merkels Satz „Wir schaffen das“ naiv?
Frau Merkel dachte, ihre Entscheidung sei gut für Deutschland. Das akzeptiere ich. Doch was gut für Deutschland ist, ist nicht zwangsläufig gut für Ungarn.
Kohl wird kaum billigen, dass Sie die Aufnahme von Flüchtlingen in Ungarn ablehnen. Er hat stets europäische Solidarität betont.
Helmut Kohl ist der Auffassung, dass man in Europa Entscheidungen gemeinsam treffen muss. Und das ist richtig so. Die Folgen von Entscheidungen können wir doch nur teilen, wenn wir sie vorher gemeinsam getroffen haben.
Sie haben dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen zugestimmt. Aber Sie sagen dennoch, es werde nicht funktionieren.
Wir sind der Türkei ausgeliefert. So etwas ist nie gut. Die Sicherheit der Europäischen Union darf sich nicht in der Hand einer Macht außerhalb der EU befinden. Ich habe die Türkei-Strategie nur mit der Auflage unterstützt, dass es zusätzlich ein eigenes Grenzschutzsystem geben muss. Ein Kontinent muss sich verteidigen können.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Spielen Sie mit „ausgeliefert“ auf den Skandal um den deutschen Satiriker Jan Böhmermann an?
Zunächst denke ich an Geld. Wir EU-Mitglieder haben schon drei Milliarden Euro an die Türkei gezahlt, bald werden noch einmal drei Milliarden Euro fällig. Wo das endet, ist nicht absehbar. Und wenn man auf das Wohlwollen eines Landes so angewiesen ist, kann es zu solchen Unfällen wie bei Böhmermann kommen. Im Juni werden wir aber noch ein ganz anderes Problem bekommen. Dann nämlich werden die Türken auf der Visafreiheit bestehen.
Warum sollte das so ein Problem sein?
Verwehren wir die Visafreiheit, lässt die Türkei die Flüchtlinge nach Europa reisen. Vor diesem Ansturm muss sich Europa schützen können. Es war auch unfair, Ungarn zu attackieren, nur weil wir mit unseren strengen Kontrollen die EU-Außengrenzen geschützt haben. Wir hätten dafür Anerkennung verdient.
Sie verschweigen, dass es einen Vorschlag der EU zum Schutz der Außengrenzen gibt.
Der Reformvorschlag der EU-Kommission basiert aber auf dem Wohlwollen der Mitgliedstaaten und verfehlt sein Ziel, weil er versucht, das Flüchtlingssystem zu reformieren. Im Zentrum steht eine Reform des Dublin-Systems. Das ist ein Fehler. Im Mittelpunkt der Reform muss der Schutz der Außengrenzen stehen. Ohne den können wir die Migrationsfrage nicht lösen. Schengen ist tot, wenn der Schutz der Außengrenzen nicht funktioniert.
Kann Griechenland das alleine schaffen? Braucht es nicht etwa Hilfe von EU-Grenzbeamten?
Für den Schutz der Außengrenzen sind die jeweiligen EU-Länder zuständig. Falls nötig, helfen andere Mitgliedstaaten, und diese europäische Hilfe muss angenommen werden. Passiert das nicht, muss das Land aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden.
"Der britische Weg kommt für uns Ungarn nicht infrage."
Sehen Sie noch die Chance einer europäischen Lösung zur Verteilung der Flüchtlinge?
Den Status eines jeden Flüchtlings gilt es in Flüchtlingslagern außerhalb Europas festzustellen: In der Türkei, in Libyen und in sicheren Drittstaaten. Die Flüchtlingslager muss Europa finanzieren. Wenn wir das so machen, brauchen wir keine Verteilung der Flüchtlinge.
Was passiert dann aber mit Flüchtlingen, die schon hier sind?
Wer keinen offiziellen Aufenthaltsstatus hat, muss zurück in die außereuropäischen Flüchtlingslager und dort auf das Rechtsverfahren warten. Helfen wir ihnen hier in Europa, kommen sie auch hierher. Damit ein Syrer nach Deutschland kommt, muss er durch fünf sichere Länder reisen. Das ist doch keine Flucht mehr, das ist eine Reise.
Wie viele Flüchtlinge würde Ungarn unter diesen Umständen aufnehmen?
Das muss unser Parlament entscheiden. Dieses Recht müsste bei den nationalen Parlamenten bleiben.
In Ungarn herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Brauchen Sie nicht Zuwanderung?
Unsere Probleme in den Bereichen Demografie und Arbeitsmarkt wollen wir nicht durch Einwanderung, sondern durch eine zukunftsweisende Familienpolitik lösen.
Und das gibt Ihnen einen Grund, über ein angeblich zentralistisches Europa zu klagen?
Europa ist ein Gebilde, das sich in Bewegung befindet, es ändert sich ständig. Europa ist wie ein Haifisch: Wenn es innehält, stirbt es.
Was stört Sie daran so?
Europa sieht aus, als bestehe es aus den Institutionen und als müssten die Mitglieder den Institutionen folgen. Das ist absurd. Ich habe also keinen Streit mit Berlin, ich habe Streit mit Brüssel. Ich habe auch keinen Streit mit Angela Merkel, sondern mit Vertretern der EU-Institutionen wie Parlamentspräsident Martin Schulz und Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist ein Parteifreund von Ihnen, Sie gehören beide der Europäischen Volkspartei an. Reden Sie mit ihm über Ihre unterschiedlichen Ansichten?
Unter uns haben wir ein gutes Verhältnis. In der Öffentlichkeit beleidigt er mich allerdings häufig. Aber meine Mutter hat mir beigebracht, trotzdem höflich zu bleiben.
Warum treten Sie nicht aus der EU aus?
Ungarn ist ein Teil von Europa, und ich bin es auch. Und ich mache Vorschläge, um die Lage in der EU zu verbessern. Der britische Weg kommt für uns Ungarn nicht infrage.
Die Briten entscheiden am 23. Juni über ihren Verbleib in der EU. Was würde ein Austritt für den Rest der Union bedeuten?
Der Brexit wäre ein schwerer Schlag für Europa. Das ist ein Abgrund, in den wir uns gar nicht trauen hinabzusehen. Aber da sind wir in den Händen der Briten. Sie müssen entscheiden, was sie wollen, wir können nicht an ihrer Stelle entscheiden. Grundsätzlich könnten Dinge passieren, die wir noch nie erlebt haben. Es gab ja noch nie den Fall, dass ein Land austritt.
27 EU-Staaten müssen hilflos abwarten, wie die Briten abstimmen. Hat Europa ein Führungsproblem?
Absolut. Gleich zwei. Es wird von den europäischen Institutionen heute nicht zur Kenntnis genommen, dass die Mitgliedstaaten die Europäische Union bilden. Die Institutionen müssten ihnen dienen. Heute ist das umgekehrt, deshalb ist das Gewicht der Spitzenpolitiker der einzelnen Nationen begrenzt. Europa setzt noch dazu gute Führung mit institutioneller Führung gleich, Personen sind sekundär. Das ist ein Irrtum. Wenn die Dinge gut laufen, dann regulieren die Institutionen im Großen und Ganzen die Geschicke. Wenn die Dinge schlecht laufen, dann braucht es starke Führungspersönlichkeiten. Das wird heute in der Union nicht anerkannt, eine starke Führungspersönlichkeit gilt sogar als Gefahr.
"Wer nicht wie der Mainstream diskutiert, wird ausgeschlossen."
Können Sie sich im jetzigen Umfeld vorstellen, dass die EU überhaupt noch weitere Mitglieder aufnehmen wird?
In der europäischen Politik haben wir ein Problem mit dem Zeithorizont. Wir arbeiten kurzatmig, immer im Einsatz gegen die aktuelle Krise. Für Politiker geht es darum, die nächsten Wahlen zu überleben. Es bleibt keine Energie für die historische Perspektive. Und deshalb haben sich heute fast alle gegen die Erweiterung positioniert – einige mitteleuropäische Staaten ausgenommen. Ich bin für die Erweiterung, vor allem für den Beitritt Serbiens und Mazedoniens. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass Griechenland Mitglied der EU ist, und nach Norden Nicht-Mitgliedstaaten folgen. Es kann keinen weißen Fleck in Europa geben. Die Flüchtlingskrise hat das klar genug gezeigt. Wenn wir die Erweiterung gut machen, dann beschert das zusätzliche Energie. Ohne die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn gäbe es in Europa heute kein Wachstum.
Und Sie finden in Ländern, wie Polen natürliche Verbündete. Verbuchen Sie das als politischen Gewinn?
Europa war stets aufgebaut auf einen politischen Wettbewerb zwischen Rechts und Links. Da geht es nicht nur um Macht, sondern um Werte. Man muss akzeptieren, dass in einem Land die Konservativen die Wahl gewinnen. Und Konservative dürfen konservativ sein. Man muss den Polen lassen, Polen zu sein. Polen ist ein glückliches Land. Dort gibt es keine wesentliche linksgerichtete Partei. Das ist ein großes Geschenk. In Polen wetteifert eine mitte-rechts und eine rechte Partei. Das ist ungewöhnlich, man stelle sich das nur einmal in Deutschland vor. Aber dem liegt eine gewisse Schönheit inne.
Was halten Sie vom Euro?
Es macht einen doch nachdenklich, dass das Wirtschaftswachstum heute aus den Ländern außerhalb der Euro-Zone kommt. Die Länder der Euro-Zone wachsen um null bis ein Prozent, der Rest Europas wächst um drei, vier, fünf Prozent. Das zeigt, dass das Projekt Euro-Zone gelähmt ist. Man müsste den eingeschlagenen Weg zu Ende gehen. Neben die monetäre Union müsste auch eine Haushalts-, Steuer- und Arbeitsrechtsunion treten. Jetzt sind wir auf halber Strecke stehen geblieben. Die Euro-Zone ist nicht attraktiv für Länder, die noch nicht Mitglied sind – auch für uns nicht.
Ungarn wird also nicht dem Euro beitreten?
Man soll niemals nie sagen. Wenn Europa sich aufrafft, ist es in ein, zwei, drei Jahren wieder zu Wundern fähig. Ich erinnere mich an die Neunzigerjahre, als wir Europäer sehr vital waren. Das kann sich durchaus wiederholen.
Fragt sich nur, ob Europa Sie dann noch will. Sie haben in einer Rede immerhin das Konzept eines „illiberalen“ Staats entworfen. Das klingt mehr nach Bewunderung für Russland oder China.
Systeme, die mit dem westlichen rivalisieren, sind zweifelsohne erfolgreich. Das pflegt man in Europa zu leugnen, denn es verletzt unser Selbstwertgefühl. Aber es ist dumm, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Allerdings glaube ich nicht, dass man in Deutschland ein russisches oder chinesisches System aufbauen könnte. Auch in Ungarn wäre es unmöglich.
Was meinen Sie denn mit dem Begriff des „illiberalen“ Staates?
Wir haben in Europa ein System aufgebaut, wonach alle Demokraten auch Liberale sein müssen. Früher gab es Christdemokraten, einst sogar Sozialdemokraten. Das hat sich geändert. Beide werden verteufelt – oder aber sie müssen sich selbst als liberal bezeichnen. Wir haben die absurde Situation, dass du kein Demokrat bist, wenn du kein Liberaler bist. In Europa können deshalb bestimmte Fragen und Meinungen nicht mehr geäußert werden. Das bedeutet, dass Liberalismus heute ein Feind von freier Diskussion geworden ist. Wer nicht wie der Mainstream diskutiert, wird aus der Welt der Anständigen ausgeschlossen, gilt nicht mehr als Demokrat.
"Merkel kann gar nicht schwach werden"
Was bedeutet Macht für Sie persönlich?
Verantwortung. Ich war 16 Jahre in der Opposition und erst zehn Jahre an der Regierung.
Wie sieht Ihre weitere Lebensplanung aus?
Ich repräsentiere den alten Schlag von Politikern. In der modernen Politik ist es üblich, nach einer verlorenen Wahl in die Wirtschaft zu wechseln. Ich gehöre nicht zu dieser Schule. Ich befasse mich schon seit jungen Jahren mit Politik und werde das noch als Rentner tun. Ich bleibe also in den kommenden 15 bis 20 Jahren in der Politik, mal in der ersten, mal in der dritten Reihe. Wo genau, entscheiden die Wähler.
Sie sind ja nicht nur für einen Plausch mit Helmut Kohl nach Deutschland gekommen, sondern haben auch Wirtschaftsgespräche in Deutschland geführt. Wie wichtig sind diese Beziehungen?
Enorm wichtig. Unser Land liefert allein nach Baden-Württemberg jedes Jahr Waren im Wert von sechs Milliarden Euro. Das ist für unsere Verhältnisse gewaltig. Die Deutsche Auslandshandelskammer in Budapest hat gerade eine Umfrage veröffentlicht, wonach 90 Prozent der deutschen Unternehmen in Ungarn zufrieden sind.
In den vergangenen Jahren hat Ihre Regierung immer wieder Investoren aber auch durch eine Bankenabgabe und Sondersteuern für ausländische Unternehmen irritiert.
Das geschah während der Weltfinanzkrise. Ungarn war 2008 das erste Land, das wirtschaftlich zusammengebrochen ist. Und es ging nicht an, dass die Lasten der Krise nur von den einfachen Menschen getragen wurden. Große und reiche Unternehmen mussten auch ihren Beitrag schultern. Ungarn ist aus der Krise so gut herausgekommen, dass wir vor zwei Wochen die letzten IWF-Darlehen zurückgezahlt haben. Wir haben Deutschland nicht um Hilfe bitten müssen. Aber die Lasten der Krise mussten alle tragen: private Haushalte, Banken und eben auch die großen Unternehmen.
Macht es Ihnen eigentlich angesichts Ihrer eigenen engen Bande zu Deutschland Sorge, dass Kanzlerin Merkel aufgrund der Flüchtlingskrise bald nicht mehr die stärkste Politikerin in Europa sein könnte?
Deutschland ist das stärkste Land in Europa. Wir können dem Wolf sagen, von nun an Gras zu fressen, aber das entspricht nicht seiner Natur. Und Europa kann nur mit einem starken Deutschland gelingen.
Wir haben nach Frau Merkel gefragt, nicht nach Deutschland.
Merkel hat mit dem starken Deutschland so viel politisches Gewicht hinter sich, dass sie gar nicht schwach werden kann. Sie ist wie ein Lastwagenfahrer und kann nicht einfach so tun, als ob sie in einem VW Golf säße. Die europäische Konstruktion ist ja eine gute. Deutschland kann stark sein, ohne dadurch andere Länder zu gefährden.