Vor dem EU-Gipfel Nun droht der „harte Brexit“ – was bedeutet das?

Im März wollen EU und Briten die Operation Brexit beginnen. Doch es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Briten weiter am Binnenmarkt teilnehmen können. Was das für Europa bedeutet – vier Fragen und Antworten.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Die Einwanderung ins Vereinigte Königreich muss gedrosselt werden. Das ist die Lehre, die die britische Politik aus dem Brexit-Referendum zieht. Derzeit arbeitet die britische Regierung an Plänen, um die Einwandererzahlen auf etwa ein Drittel des jetzigen Niveaus zu senken. Die europäische Freizügigkeit, die den EU-Bürgern erlaubt zu bestimmen, in welchem Mitgliedsland sie leben möchten, ist also die größte Hürde für die Brexit-Verhandlungen. Wann diese starten und warum Europa eine jahrelange Lähmung droht – vier Fragen und Antworten.

1. Wann und wie beginnen die Brexit-Verhandlungen?

Die britische Premierministerin Theresa May will den Brexit bis Ende März kommenden Jahres einleiten. Dafür muss Großbritannien Artikel 50 der EU-Verträge aktivieren, worin das Verfahren festgelegt ist, wie ein Mitgliedsland die Europäische Union verlassen kann. Die 28 EU-Staaten haben dann zwei Jahre Zeit, um die Trennung zu verhandeln. Diese Frist kann verlängert werden, wenn sich alle Mitgliedsstaaten einstimmig darauf verständigen.

Beim EU-Gipfel, der an diesem Donnerstag und Freitag stattfindet, finden also noch keine Austrittsverhandlungen statt. Vielmehr wird May ihren Kollegen den britischen Zeitplan vorstellen. Und die übrigen 27 Regierungschefs werden die Gelegenheit nutzen, um ihre Verhandlungsstrategie gegenüber den Briten weiter zu schärfen. Ob und unter welche Bedingungen die künftig weiter am europäischen Binnenmarkt partizipieren dürfen, wird im Zentrum der Debatte stehen.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

2. Bleiben die Briten im Binnenmarkt?

Die Verhandlungen über diese Frage sind schon festgefahren, bevor sie überhaupt begonnen haben. Die 27 EU-Staaten verlangen, dass Großbritannien den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie die Personenfreizügigkeit akzeptiert. Das Problem: „Die Briten sind nicht bereit, sich den Regeln des Binnenmarktes unterzuordnen“, sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Zu den sogenannten vier Freiheiten kommen noch weitere Punkte hinzu, wie das Beispiel Norwegen zeigt. Die Norweger sind kein EU-Mitglied, gehören aber dem Europäischen Wirtschaftsraum an. Dies bedeutet, dass sie am Binnenmarkt teilnehmen dürfen, aber auch alle Gesetze umsetzen müssen, die Brüssel in Bezug auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum erlässt. Zudem müssen die Norweger Geld in den EU-Haushalt in Brüssel einzahlen und sich an Urteile vom Europäischen Gerichtshof halten.

Kurz: Das skandinavische Land ist ein EU-Mitglied zweiter Klasse. Zwar kann es die Vorteile des Binnenmarktes nutzen, darf aber nichts mitbestimmen. Britische Politiker dürften große Probleme haben, eine solche Lösung ihrer Bevölkerung zu verkaufen. Für EU-Experte Ondarza ist deshalb klar: „Der harte Brexit wird wohl unvermeidbar sein.“

4. Was bedeutet ein harter Brexit?

Der sogenannte „harte Brexit“ ist genau jenes Szenario, das viele in Politik und Wirtschaft vermeiden wollen. Wenn sich EU und Großbritannien nicht einigen sollten, käme es schlimmstenfalls zu einem unkontrollierten Austritt. Das Vereinigte Königreich wäre dann kein EU-Mitglied mehr und ein Drittstaat wie viele andere auch – ohne Zugang zum Binnenmarkt.

Insbesondere für die britische Wirtschaft wäre das ein herber Schlag, eine Rezession wahrscheinlich.

Die Regierung von Theresa May weiß das nur zu gut und versucht deshalb durch die Hintertür einen Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten. Ihr Plan: Sie wird wohl versuchen, mit den Europäern ein tiefgehendes Freihandelsabkommen zu verhandeln, was den Briten einen Großteil der Vorteile vom Binnenmarkt sicherstellen soll – ohne die vier Freiheiten, finanzielle und rechtliche Auflagen akzeptieren zu müssen.

Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum

Ein solcher Plan braucht vor allem Zeit, glaubt Nicolai von Ondorza. „An Ceta und TTIP können wir sehen, dass ein solcher Prozess ein Jahrzehnt dauern kann“, sagt der EU-Experte. Bis zum Frühjahr 2019, wenn die zweijährige Verhandlungsphase vorbei ist, rechnet Ondarza höchstens mit einem Übergangsvertrag.

4. Wie geht es für Europa insgesamt weiter?

Die Brexit-Verhandlungen bedeuten vor allem eines: Europa wird sich jahrelang mit sich selbst beschäftigen. Klar, Themen wie die Ukraine-Krise, der Krieg in Syrien und die Frage, wie die Gemeinschaftswährung um eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ergänzt werden kann, bleiben auf der Tagesordnung. Künftig wird es bei nahezu jedem EU-Gipfel aber auch stets um den Brexit gehen. Das frisst Zeit und Ressourcen – in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten.

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Und die Briten wiederum haben bereits klar gemacht, dass sie ihr Stimmrecht bis zum letzten Tag ihrer Mitgliedschaft voll ausnutzen werden. So stemmt sich London beispielsweise gegen eine weitere Integration in der Verteidigungspolitik. Viele EU-Staaten halten es für sinnvoll, sich in militärischen Fragen enger abzustimmen, Stichwort Aufgabenteilung. Nicht jedes Mitgliedland soll alle militärischen Fertigkeiten haben müssen. Die Briten wollen genau das verhindern.

Die Europäische Union wird in den nächsten zweieinhalb Jahren also nicht nur den britischen EU-Austritt stemmen müssen. Sie muss auch ertragen, dass die Briten über die Zukunft der Union mitbestimmen werden, obwohl sie dieser gar nicht mehr angehören werden. Europa drohen viele Jahre politischer Lähmung.

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