Die Einwanderung ins Vereinigte Königreich muss gedrosselt werden. Das ist die Lehre, die die britische Politik aus dem Brexit-Referendum zieht. Derzeit arbeitet die britische Regierung an Plänen, um die Einwandererzahlen auf etwa ein Drittel des jetzigen Niveaus zu senken. Die europäische Freizügigkeit, die den EU-Bürgern erlaubt zu bestimmen, in welchem Mitgliedsland sie leben möchten, ist also die größte Hürde für die Brexit-Verhandlungen. Wann diese starten und warum Europa eine jahrelange Lähmung droht – vier Fragen und Antworten.
1. Wann und wie beginnen die Brexit-Verhandlungen?
Die britische Premierministerin Theresa May will den Brexit bis Ende März kommenden Jahres einleiten. Dafür muss Großbritannien Artikel 50 der EU-Verträge aktivieren, worin das Verfahren festgelegt ist, wie ein Mitgliedsland die Europäische Union verlassen kann. Die 28 EU-Staaten haben dann zwei Jahre Zeit, um die Trennung zu verhandeln. Diese Frist kann verlängert werden, wenn sich alle Mitgliedsstaaten einstimmig darauf verständigen.
Beim EU-Gipfel, der an diesem Donnerstag und Freitag stattfindet, finden also noch keine Austrittsverhandlungen statt. Vielmehr wird May ihren Kollegen den britischen Zeitplan vorstellen. Und die übrigen 27 Regierungschefs werden die Gelegenheit nutzen, um ihre Verhandlungsstrategie gegenüber den Briten weiter zu schärfen. Ob und unter welche Bedingungen die künftig weiter am europäischen Binnenmarkt partizipieren dürfen, wird im Zentrum der Debatte stehen.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
2. Bleiben die Briten im Binnenmarkt?
Die Verhandlungen über diese Frage sind schon festgefahren, bevor sie überhaupt begonnen haben. Die 27 EU-Staaten verlangen, dass Großbritannien den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie die Personenfreizügigkeit akzeptiert. Das Problem: „Die Briten sind nicht bereit, sich den Regeln des Binnenmarktes unterzuordnen“, sagt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Zu den sogenannten vier Freiheiten kommen noch weitere Punkte hinzu, wie das Beispiel Norwegen zeigt. Die Norweger sind kein EU-Mitglied, gehören aber dem Europäischen Wirtschaftsraum an. Dies bedeutet, dass sie am Binnenmarkt teilnehmen dürfen, aber auch alle Gesetze umsetzen müssen, die Brüssel in Bezug auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum erlässt. Zudem müssen die Norweger Geld in den EU-Haushalt in Brüssel einzahlen und sich an Urteile vom Europäischen Gerichtshof halten.
Kurz: Das skandinavische Land ist ein EU-Mitglied zweiter Klasse. Zwar kann es die Vorteile des Binnenmarktes nutzen, darf aber nichts mitbestimmen. Britische Politiker dürften große Probleme haben, eine solche Lösung ihrer Bevölkerung zu verkaufen. Für EU-Experte Ondarza ist deshalb klar: „Der harte Brexit wird wohl unvermeidbar sein.“