Wie ist die Stimmung?
Es ist, als hätten die Franzosen Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“ gelesen. Vor allem das Kapitel über die Idealisierung der Vergangenheit. Seit Jahren baden sie in Selbstmitleid über ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abstieg, klagen über soziale Ungleichheit und ihr Einwandererproblem. Zwischen August 2015 und September 2016 stieg die Quote derer, die pessimistisch in die Zukunft blicken, von 49 auf satte 70 Prozent. Wenngleich die tatsächlichen Zahlen oft das Gegenteil belegen, kommen die Präsidentschaftskandidaten kaum umhin, diese mentale Lage aufzunehmen.
Wer verspricht am überzeugendsten, die angeblich verlorene Grandeur des Frankreichs vergangener Tage wieder herzustellen? Das ist das wahlentscheidende Thema.
Wer polarisiert am meisten?
Im Augenblick, Überraschung, nicht die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen, sondern François Fillon. Was erstens daran liegt, dass der konservative Bewerber gute Chancen hat, tatsächlich Präsident zu werden, das Land aber zweitens einer Rosskur unterziehen will, die vielen zu weit geht. Frankreich diskutiert ernsthaft und ausführlich darüber, ob die staatliche Krankenversicherung künftig noch für einen Arztbesuch bei Schnupfen aufkommen soll. Darüber und über die geplante Streichung von landesweit 500.000 Beamtenstellen und das Ende der 35-Stunden-Woche ist beinahe in Vergessenheit geraten, dass Le Pen die Grenzen für Einwanderer und Importwaren gleichermaßen dichtmachen sowie außerdem gleich ganz aus dem Euro aussteigen will.
Das ist Geert Wilders
Der niederländische Politiker Geert Wilders wurde am 6. September 1963 in Venlo geboren und ist seit 1992 mit einer Ungarin verheiratet. Neben einer Tätigkeit bei einer Versicherungsgesellschaft studierte Wilders Rechtswissenschaften an der niederländischen Open Universiteit. Geert Wilders lebte eine längere Zeit in Israel. Wegen Volksverhetzung - Wilders nannte Muslime pauschal "gefährlich" - stand Wilders Anfang 2010 vor Gericht. Die Richter sprachen ihn frei, bei seiner Äußerung handele es sich um "freie Meinungsäußerung".
Euroskepsis und Fremdenhass ist das, was die „Partei für die Freiheit“ (PVV) ausmacht. In den Augen ihres Gründers Geert Wilders ist der Islam eine faschistische Ideologie. Ein Einwanderungsstopp ist seiner Ansicht nach die einzig logische Konsequenz. Wilders spricht sich zudem gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union aus und findet, dass die EU sich in einem "schrecklichen Zustand" befindet.
Anfang 2006 gründete Wilders die "Partij voor de Vrijheid", mit der er bei den niederländischen Parlamentswahlen am 22. November 2006 antrat und aus dem Nichts neun Sitze im Parlament erhielt. Die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt wählte ihn daraufhin 2007 zum Politiker des Jahres. 2010 holte seine Partei bei den Wahlen über 15 Prozent der Stimmen. Wilders wurde zum Zünglein an der Waage und duldete die Minderheitsregierung von Mark Rutte.
Geert Wilders ist radikaler Gegner des Islams. Er fordert eine Steuer für das Tragen von Kopftüchern und Vergleich den Koran bereits mit Hitlers „Mein Kampf“. Für seine Äußerung, Muslime seien grundsätzlich potentiell gefährlich, musste er sich vor Gericht verantworten.
Ihr Front National gibt sich als Schutzmacht der kleinen Leute aus, die sie gegen finstere, globale Großkonzerne verteidigt – und gegen die Großmacht Berlin gleich mit. Nach Le Pens Lesart hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Fillon „auserwählt, um Frankreichs Vasallenstellung gegenüber Deutschland und der ultraliberalen EU zu festigen“. Das ist der scharfe Ton, der die französische Debatte beherrscht.
Wie geht es wahrscheinlich aus? Und was bedeutet das?
Glaubt man dem pessimistischen Jahresausblick der Agentur Bloomberg, macht Le Pen das Rennen. Bloomberg hatte auch den Brexit und Donald Trumps Sieg richtig prophezeit. Es wäre eine Zeitenwende. Will Fillon verhindern, dass der Front National mit dem Zuckerbrot-Programm bestehend aus höheren Mindestlöhnen, der Rückkehr zur Rente mit 60 oder der Mär von „Frankreich zuerst“ Wähler ködert, muss er sein Programm abspecken.
Was dann aber bedeutet, dass die dringend nötige Sanierung der Staatskassen und die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts weniger gründlich ausfällt. Völlig ungewiss ist derzeit, ob ein sozialliberaler Quereinsteiger wie Emmanuel Macron die politische Mitte ausfüllen kann, die nach der Entscheidung der Konservativen für Fillon mittlerweile verwaist ist.
Noch viel ungewisser: Mit welcher Parlamentsmehrheit Macron im Falle eines Sieges überhaupt regieren würde. Seine noch junge Bewegung En Marche! (Vorwärts) könnte gar nicht mehr genügend Kandidaten für die im Juni geplanten Parlamentswahlen aufstellen. Es gibt in Frankreich zwar eine Tradition der Zusammenarbeit zwischen dem Präsidenten und einem Abgeordnetenhaus, das vom gegnerischen Lager dominiert wird – doch führte das in der Vergangenheit stets zu Blockaden.