WirtschaftsWoche: Herr Krämer, Sie sind einer der entschiedensten Kritiker der Euro-Rettungspolitik. Der jüngste Zinsentscheid der EZB wird wohl kaum ihr Gefallen finden.
Krämer: Nein. Es ist doch offensichtlich, dass durch diesen Schritt vor allem Teile des Finanzsektors vor dem Untergang bewahrt werden sollen. In den USA sind seit 2008 einige Hundert Banken pleite gegangen, hier bei uns in der Eurozone nur wenige. Wir halten gegen jede ökonomische Logik marode, klinisch tote Geldinstitute über Wasser. Das ist der Hauptzweck, weswegen die EZB so billiges Geld verschleudert.
Sie glauben also nicht, dass Mario Draghi das Wohl der Krisenstaaten in Südeuropa im Sinn hat?
Langfristig schadet seine Geldpolitik doch den Krisenstaaten. Denn sie ist nur ein Schmerzmittel. Die Euro-Krankheit wird dadurch nicht geheilt. Die EZB betreibt Staatsfinanzierung durch die Hintertür und erlaubt dadurch den Regierungen in Südeuropa, weiter ihre unseriöse Finanzpolitik zu betreiben. Die betäubte Krankheit bricht später umso heftiger wieder aus.
Der Instrumentenkasten der EZB
Wieder einmal blicken alle in der Euro-Schuldenkrise gebannt nach Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB) soll es im schlimmsten Fall richten, mit ihrem Waffenarsenal intervenieren und so die Märkte beruhigen.
Zwar streiten sich Fachleute und auch die Notenbanker darüber, wie effektiv, nachhaltig und sinnvoll weitere Eingriffe der Geldpolitik sein könnten. Fest steht aber: die EZB verfügt als einzige Institution über einen gut gefüllten und theoretisch sofort verfügbaren Instrumentenkasten, um angeschlagenen Banken unter die Arme zu greifen, Institute im Falle eines Bank-Runs mit neuem Geld zu schützen und durch ihre Finanz-Feuerkraft wenigsten für eine begrenzte Zeit wieder für Ruhe an den Börsen zu sorgen.
Vor dem Wahlsonntag in Athen verdichten sich die Hinweise, dass die großen Notenbanken der Welt gemeinsame Sache machen und die Märkte mit Geld fluten könnten. Eine solche konzertierte Aktion der Zentralbanken gab es schon einmal - Anfang Oktober 2008, kurz nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers, als weltweit die Finanzströme zu versiegen drohten.
In der aktuellen Krise rund um die Überschuldung Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder hat bislang nur die britische Notenbank angekündigt, dass sie gemeinsam mit dem Finanzminister in London ihren Bankensektor zum Schutz vor aus Griechenland überschwappenden Problemen mit 100 Milliarden Pfund fluten will. Am Freitag sorgte die Aussicht auf eine gemeinsame Intervention der Zentralbanken zunächst für bessere Stimmung an den Märkten.
Aktuell steht der Leitzins der EZB bei 0,75 Prozent. Die Notenbank kann natürlich jederzeit an dieser in normalen Zeiten wichtigsten Stellschraube drehen. Es wäre ein historischer Schritt: Noch nie seit Bestehen der Währungsunion lag der Schlüsselzins für die Versorgung des Finanzsystems mit frischer Liquidität niedriger.
Allerdings nimmt der Spielraum der EZB mit jeder weiteren Leitzinssenkung ab - schließlich rückt damit die Nulllinie unausweichlich immer näher. Fachleute erwarten, dass die Zentralbank mit weiteren Zinssenkungen so lange wartet wie nur möglich, um für den Fall echter Verwerfungen an den Finanzmärkten, wie sie etwa bei einem Austritt der Griechen aus der Euro-Zone drohen würden, noch Munition zu haben.
Um den Geldmarkt wiederzubeleben und die Banken zu ermuntern mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf zu geben, könnte die EZB den sogenannten Einlagezinssatz auf null Prozent kappen. Dieser Zins liegt aktuell bei 0,25 Prozent. Das bedeutet, dass Banken, die keiner anderen Bank mehr trauen, immerhin noch Geld dafür bekommen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der EZB parken. Bei einem Einlagezinssatz von einem Prozent entfiele der Anreiz dies zu tun. Doch ob die Banken der EZB den Gefallen tun oder das Geld dann lieber horten, ist fraglich. Aktuell parken sie jedenfalls knapp 800 Milliarden Euro in Frankfurt.
Im Dezember und im Februar ist es der EZB gelungen, mit zwei jeweils drei Jahre laufenden Refinanzierungsgeschäften die Gemüter der Banker wenigstens für eine Zeit lang zu beruhigen. Damals sicherten sich die Geldhäuser insgesamt rund eine Billion Euro bei der Zentralbank zum Billigtarif von nur einem Prozent.
Einige Experten glauben, dass weitere langlaufende Geschäfte dieser Art das durch die Unsicherheit über die Zukunft der Euro-Zone untergrabene Vertrauen wieder zurückbringen könnten. Die Banken, die sich um den Jahreswechsel bei der EZB bedient haben, sind allerdings ohnehin bis mindestens Ende 2014 abgesichert. Außerdem kann jede Bank darüber hinaus bei den wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften der Notenbank aus dem Vollen schöpfen.
Damit den Banken die Sicherheiten nicht ausgehen, die diese als Pfand bei den Refinanzierungsgeschäften mit der Notenbank stellen müssen, kann die EZB weitere Erleichterungen bei den Anforderungen beschließen. Sie kann dabei auch selektiv nach Ländern vorgehen, um gezielter zu helfen. Allerdings sind Erleichterungen bei den Sicherheiten immer auch ein Politikum, weil dadurch die Risiken steigen, die die Zentralbank durch die Refinanzierung in ihrer Bilanz ansammelt. Im Fall der Fälle müssten diese von den Steuerzahlern der Mitgliedsländer getragen werden.
Die EZB hat seit Mai 2010 Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder für mehr als 200 Milliarden Euro gekauft. Das im Fachjargon SMP (Securities Markets Programme) genannte Programm ist wegen seiner möglichen Nebenwirkungen in Deutschland und einigen anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern umstritten. Es ruht derzeit, kann allerdings jederzeit wieder vom EZB-Rat in Kraft gesetzt werden.
Ob es allerdings noch seine erhofften positiven Wirkungen am Bondmarkt entfalten kann, ist unklar. Wegen der Erfahrungen bei der Umschuldung Griechenlands im Frühjahr dürften wenige private Investoren wie Banken oder Versicherungen der EZB folgen und wieder in den Markt gehen, weil sie fürchten, dass die Zentralbank erneut einen Sonderstatus als Gläubiger durchsetzen könnte, wie sie es im Fall Griechenland getan hat.
Theoretisch kann die EZB neben Staatsanleihen auch andere Arten von Wertpapieren kaufen und auf diese Weise Geld schaffen: zum Beispiel Bankschuldverschreibungen, Aktien und Unternehmensanleihen. Während der Ankauf von Bank Bonds eine durchaus denkbare Möglichkeit wäre, Liquidität bei den Banken zu schaffen, scheinen andere Wege wenig erfolgversprechend. So könnte die EZB wohl schlecht erklären, warum sie etwa Aktien von Banken kauft, nicht aber von Auto- oder Chemiekonzernen. Oder sie setzt sich dem Verdacht aus, der einen Bank mehr Aktien abzukaufen als anderen oder zum Beispiel spanische Institute deutschen oder österreichischen Banken vorzuziehen.
Theoretisch kann die EZB auch ihre Anforderungen an die Mindestreserve der Banken, die diese bei ihr halten müssen, absenken. Sie hat dies um den Jahreswechsel bereits getan und den Satz ihrer gesamten Einlagen, den jede Geschäftsbank bei ihr parken muss, von zwei auf ein Prozent halbiert. Dadurch hatte sie damals eine Summe von rund 100 Milliarden Euro für die Banken freigemacht. Ein solcher Schritt würde es für Banken in Südeuropa, die wohl am ehesten unter einer Kapitalflucht leiden würden, leichter machen, Mittel flüssig zu halten.
Und der große Knall, den Sie uns schon einmal prophezeiten?
Den kann man vielleicht hinauszögern, bis selbst der dümmste Politiker und Wähler kapiert hat, was da wirklich abläuft. Ich denke bis zur nächsten Europa-Wahl in vier Jahren werden es alle verstanden haben. Wenn die Regierenden in Europa bis dahin so weiter machen, werden die eurokritischen Parteien die Mehrheit bekommen. Dann ist das Projekt am Ende.
Draghi warnt seit einiger Zeit vor den Gefahren einer Deflation. Droht die wirklich?
Mich als Statistiker regt auf, dass man Inflation und Deflation immer nur an einem sehr beschränkt gültigen Preisindex aufhängt, nämlich an dem für die Lebenshaltung. Der misst aber nur einen sehr engen Ausschnitt aller Preise, von allen Kaufentscheidungen gehen nur wenige Prozent in diesen Index ein. Die Preise von Immobilien und Kapitalgütern fehlen da zum Beispiel völlig. Und die sind enorm gestiegen. Wir erleben hier eine Rieseninflation.
Die Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik
Werden die Zinsen künstlich abgesenkt, so verringert sich der Reformdruck auf Regierungen und Banken, ihre Haushalte beziehungsweise Bilanzen zu verbessern.
Ein künstlich tief gehaltener Zins verhindert, dass unprofitable Investitionsprojekte also Fehlinvestitionen aufrecht und befördert werden.
Künstlich tiefe Zinsen lösen (inflationäre) Spekulationswellen aus, führen zu „Boom-and-Bust“-Zyklen: überhitzte Situationen, in denen, wenn niemand mehr bereit ist, Kredite zu finanzieren, alles in sich zusammenbricht.
Künstlich niedrig gehaltene Zinsen befördern die Schuldenwirtschaft, insbesondere die der Staaten und der Bankenindustrie.
Also täte Ihrer Ansicht nach eine Deflationspolitik gut?
Die Südländer brauchen deutlich niedrigere Preise im Verhältnis zu den Nordländern. Dass die ihre Produkte sonst nicht loswerden, ist ja die eigentliche Ursache der ganzen Krise. Die Griechen müssten etwa dreißig Prozent billiger produzieren. Die Alternative ist, dass wir dreißig Prozent teurer werden. Aber da machen die deutschen Sparer nicht mit.
Die Niedrigzinspolitik soll auch das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Füttert Draghi den deutschen Aufschwung?
Die deutsche Wirtschaft wird von der Entscheidung über mehrere Kanäle betroffen. Wenn der Euro schwächer wird, was wahrscheinlich ist, werden die deutschen Exporte noch günstiger. Dabei sind sie schon viel zu billig. Das ist ja das Grundübel des Euro, er ist als Anzug für die einen zu groß, für die anderen zu klein. Er zwingt Volkwirtschaften zusammen, die nicht zusammen passen.