Werteverfall Wie die westliche Ordnung verloren geht

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Fassaden der Gesellschaft einsturzgefährdet

Dieser Verlust von Ordnungen vollzieht sich nicht als krachender Zusammenbruch. Soziale Ordnungen explodieren nicht, sondern zerrinnen wie Sand zwischen den Fingern. Man hielt sie eben noch für selbstverständlich und belastbar. Man glaubt, dass Trump nicht Präsident werden und Großbritannien natürlich nicht die EU verlassen wird. Dass die Fassaden der Gesellschaft nicht mehr auf Betonfundamenten, sondern auf Sand stehen, merkt man erst, wenn sie auf die Probe gestellt werden. Es genügt dann ein Windstoß oder ein Schubs, um sie zum Einsturz zu bringen.

Fünf Krisen, die die EU schon überlebt hat

Von den Regierenden zu erwarten, dass sie diese Fundamente festigen oder erneuern, ist illusionär. Das soziale Kapital, auf dem westliche Gesellschaften und ihre politischen und ökonomischen Systeme erreichtet sind, ist nicht nur verletzlich, sondern kann in einem freiheitlich-säkularen Gemeinwesen auch nicht „von oben“ einfach wiederhergestellt werden, wie Ernst-Wolfgang  Böckenförde in dem nach ihm benannten „Diktum“ 1977 feststellte. Den Werteverfall aufzuhalten, den Miegel und andere Beobachter schon mindestens seit den 1970er Jahren feststellen, ist also keine politische Aufgabe, sondern eine kulturelle.

Herr Streeck, warum sehen Sie den Niedergang des Kapitalismus?

Solange Gesellschaften den Willen zur kulturellen Erneuerung ihrer Fundamente nicht besitzen, ist von den in diesen Gesellschaften gewählten Regierungen nichts anderes zu erwarten als die demonstrative Pflege der Fassaden, angetrieben von der Hoffnung, dass sie in ihren Lebzeiten nicht mehr auf die Probe gestellt werden. In Gesellschaften ohne festes Fundament, denen also alles gleichgültig ist, können Politiker die Lösung von Problemen, die gleichzeitig immer komplexer werden, kaum noch wirklich betreiben. Insbesondere gilt das für Probleme, die diese Politiker oder ihre Ziehväter selbst geschaffen haben.

Ackermann, Streeck und Miegel sind sich einig, dass die Einführung des Euro ein gigantischer Fehler war. Doch welcher Politiker der etablierten Parteien könnte das zugeben und die notwendigen Schlüsse ziehen, ohne sich selbst und letztlich die gesamte etablierte Funktionselite der Eurozone damit für gescheitert zu erklären? Dasselbe gilt für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Dass die Schulreformen der letzten 20 Jahre in Deutschland aus einem der besten Bildungssysteme der Welt ein Trümmerfeld gemacht haben, sieht jeder halbwegs reflektierte Lehrer oder Hochschullehrer. Doch die Politik bekennt sich weiter zu den Bologna-Reformen, wie sie sich zum Euro bekennt.

Allzu menschlich ist das, wie Nietzsche wusste: „Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halte.“ Die Funktionseliten in Deutschland und Europa haben ihre Glaubenssätze vom Euro, von den Bologna-Reformen und noch viele andere nötig – schließlich sind sie ihre Rechtfertigungsbasis. 

Der große Physiker Max Planck schrieb in seinen Memoiren: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht dadurch in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Wissenschaft.

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