Wenige Tage vor der Bundestagswahl präsentiert Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch seine Pläne für die Europäische Union. In einer Grundsatzrede im Straßburger Europaparlament will der Luxemburger mögliche Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion und anderer EU-Institutionen erläutern, die in den nächsten Monaten begonnen werden könnten. Die Erwartungen sind enorm. Die SPD verlangte vorab ein sozialeres Europa, die Wirtschaft ein klares Signal für Freihandel.
Der Präsident der Europäischen Kommission gibt jeweils im September einen Ausblick auf die folgenden Monate. Diesmal wird die Rede zur Lage der Union mit besonderer Spannung erwartet: Juncker hatte im Frühjahr Szenarien für EU-Reformen vorgelegt und will nun Stellung beziehen. Ein Vorstoß für Neuerungen wird nach der Bundestagswahl von Deutschland und Frankreich erwartet.
Wegen des wirtschaftlichen Gefälles in der Eurozone dringt vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron auf einen Umbau der Währungsunion mit eigenem Finanzminister und Haushalt. Zur Debatte stehen auch eine engere Verteidigungs-Zusammenarbeit und einheitlichere Sozialstandards.
Von Junckers Rede werden auch Aussagen zu aktuellen EU-Topthemen erwartet, darunter die Handelspolitik und der Schutz vor dem unerwünschten Aufkauf europäischer Firmen durch Investoren aus Fernost. Dazu liegt bereits ein Regulierungsentwurf vor, wie das „Handelsblatt“ und die „Süddeutsche Zeitung“ meldeten. So sollen geplante Investitionen Firmen mit sicherheitsrelevanter Technik oder in wichtige Infrastruktur wie Häfen oder Flughäfen nach festen Kriterien geprüft werden, ob sie Interessen der EU oder der Mitgliedsstaaten zuwiderlaufen.
Nach den jüngsten Spannungen mit den östlichen EU-Mitgliedern Ungarn und Polen dürfte Juncker auch zur wachsenden Kluft in der Gemeinschaft Stellung nehmen.
Juncker ist seit 2014 Kommissionspräsident. Nach der Europawahl 2019 will er aus dem Amt scheiden. Er wird nun von vielen Seiten gedrängt, die letzten Monate seiner Amtszeit intensiv zu nutzen.
Das ist Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker ist ein Veteran auf dem Europa-Parkett. Als er im Dezember 2013 nach 18 Jahren aus dem Amt des Premierministers im Großherzogtum Luxemburg schied, war der Christsoziale der seit langem dienstälteste Regierungschef in der Europäischen Union.
Kurz nach Ende seines Jurastudiums war Juncker als 28-Jähriger Mitglied der Regierung geworden - und geblieben, bis Liberale, Sozialdemokraten und Grüne mit vereinten Kräften schließlich eine Anti-Juncker-Koalition schmiedeten. Von 2005 bis 2013 war er auch Vorsitzender der Eurogruppe, der die Finanzminister der Staaten mit Euro-Währung angehören.
Juncker gilt als Europäer aus Leidenschaft. Als Sohn eines in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiven Bergwerkspolizisten und als Bürger eines einst von deutschen Soldaten besetzten Landes sieht er die EU als wichtiges Friedensprojekt und als Garanten für sozialen Ausgleich. Er ist ein intimer Kenner der internen Abläufe und Befindlichkeiten innerhalb der EU und war sowohl einer der „Erfinder“ als auch Krisenmanager des Euro.
Was die einen als Vorteil sehen, erscheint anderen als Nachteil: Für den ehemaligen britischen Premierminister David Cameron und andere Kritiker ist Juncker die Verkörperung einer „alten“, entrückten und überregulierten EU.
Juncker hat mehrfach erklärt, er fühle sich dem Amt gesundheitlich gewachsen. Nach Äußerungen des niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem, Juncker sei „ein verstockter Raucher und Trinker“, erklärte er, er habe kein Alkoholproblem.
„Das ist Junckers letzte Chance zu liefern“, erklärte der Chef der Europa-SPD, Jens Geier, der Deutschen Presse-Agentur. Juncker habe schon vor drei Jahren ein sozialeres Europa versprochen, doch fehlten belastbare Gesetze zu wichtigen Themen.
„Wir müssen unter anderem die Arbeitnehmerrechte in Europa verbessern, von Armut bedrohte Kinder schützen und etwas gegen die schwindelerregend hohe Jugendarbeitslosigkeit im Süden tun“, meinte Geier, der Chef der deutschen Sozialdemokraten im Europaparlament. „Wir müssen die Lebensbedingungen der Europäerinnen und Europäer zur Hauptsache europäischer Politik machen.“
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag setzte andere Schwerpunkte und verlangte EU-Investitionen in ein schnelles Internet überall in Europa. „Eine wiedererstarkte digitalisierte Industrie wäre ein krisenfester Anker für die europäische Wirtschaft“, erklärte DIHK-Präsident Eric Schweitzer der dpa. Auch er monierte: „Die Halbzeitbilanz weist Lücken auf.“
Neben einer raschen Digitalisierung forderte er starke Signale für Freihandel und einen erfolgreichen Abschluss der Brexit-Verhandlungen. Die Unternehmen litten unter der Unsicherheit wegen des für 2019 geplanten EU-Austritts Großbritanniens.