Wirtschaft im Weitwinkel

Eine Trennung für größeres Vertrauen in Europa

Vielen kommt es wie ein Alptraum vor, aus dem sie endlich aufwachen wollen: Die Briten haben sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Dennoch könnte der Brexit das Beste werden, was der EU in den letzten Jahren passiert ist. Der Brexit könnte ein Katalysator für ein besseres, moderneres Europa werden.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Mit 52 Prozent „Leave“ ist die Entscheidung der Briten denkbar knapp ausgefallen – eine Entscheidung, mit der niemand im Vorfeld ernsthaft gerechnet hatte. Das spiegelte sich auch an den Finanzmärkten wieder, sie wurden kalt erwischt. Kurzfristig werden sich die Börsen wieder beruhigen, doch für die langfristige Entwicklung der Finanzmärkte ist die weitere politische und konjunkturelle Entwicklung entscheidend.

Jetzt sind Politik und Wirtschaft gefordert, die Lage wieder zu stabilisieren. Es ist nichts anderes als eine Mammut-Aufgabe, vor der die Verantwortlichen stehen. Großbritannien ist nach der Abstimmung ein gespaltenes Land. Während es in Schottland und Nordirland eine deutliche Ablehnung des Brexit gab, stimmten Wales und England dafür.

Noch bemerkenswerter ist, dass im jüngeren Teil der Bevölkerung eine deutliche Mehrheit für den Verbleib in der EU war, während die Älteren die EU verlassen wollen. Die Jungen müssen sich dem Diktat der Älteren beugen. Abfinden wollen sich die EU-Befürworter damit jedoch nicht. Schon gibt es eine Petition, die eine erneute Abstimmung über den Brexit fordert. Diese Petition haben bereits mehr als 1,5 Million Briten unterzeichnet.

Stefan Bielmeier Quelle: Presse

Entscheidend für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Großbritannien ist jetzt eine schnelle politische Einigung. Lähmende Diskussionen über den weiteren Weg in Großbritannien wären für das Vertrauen der Investoren und Konsumenten verheerend.  Die Ankündigung von Regierungschef Cameron, erst in drei Monaten zurückzutreten, ist sicherlich nicht hilfreich, denn damit dürfte in den kommenden Monaten nahezu politischer Stillstand vorherrschen.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Selbst ohne weitere innenpolitische Hindernisse dürfte die britische Konjunktur in der zweiten Jahreshälfte in eine leichte Rezession rutschen. Diese könnte zwar im Laufe von 2017 überwunden werden. Jedoch sollte sich das Wachstumspotenzial in UK generell verringern und die mittelfristigen Wachstumsraten sich bei etwa einem Prozent einpendeln. Eine solche ungünstige Entwicklung ließe sich wohl nur mit großzügigen bilateralen Verträgen mit der EU verhindern. Hierfür dürfte der Anreiz für die EU jedoch sehr gering sein.

Etwas besser sieht es für die restliche EU (ohne UK) aus: Die konjunkturelle Entwicklung im Euroraum und vor allem in Deutschland sollte dagegen nur kurzfristig gedämpft werden. Negative Wachstumsraten sind aus meiner Sicht nicht zu erwarten. Bereits Mitte nächsten Jahres sollte sich die wirtschaftliche Dynamik wieder normalisieren haben. Und spätestens 2018 dürfte die Wachstumsdelle überwunden sein.

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