Wirtschaftskulturen Unterschiede machen Europa stark

Europas Krise versteht man nur aus geschichtlicher Perspektive. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser über die Prognoseschwäche der Ökonomen, die Kulturen der Weltwirtschaft und eine Alternative zur Währungsunion.

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Werner Abelshauser, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld, kritisiert die Geschichtsvergessenheit von Politikern und Ökonomen.

Herr Abelshauser, den Ökonomen wird derzeit oft vorgeworfen, mit ihren mathematischen Methoden an der Realität vorbei zu forschen. Die gegenwärtige Krise hat kaum einer vorhergesehen. Schlägt jetzt die Stunde von Wirtschaftshistorikern wie Ihnen?

Es gibt dramatische Unterschiede zwischen den Ökonomen, deren Horizont nur drei Monate zurückreicht, und den anderen, die gewohnt sind, über gegenwärtige Bedingungen in längerer historischer Perspektive zu urteilen. Die meisten Entscheidungen sind nämlich durch frühere Entscheidungen schon weitgehend festgelegt.

Sie meinen das, was Historiker Pfadabhängigkeit nennen.

Ja. Und die beachten viele Ökonomen nicht. Mit ihren Methoden, die ich als Denkhilfen durchaus respektiere, könnten sie besser das Wetter vorhersagen als die wirtschaftliche Entwicklung. Denn dazu gehören nicht nur statistische und mathematische Regelmäßigkeiten. Da gehören auch Denk- und Handlungsweisen der Menschen dazu, Spielregeln und historisch gewachsene Organisationsweisen der Wirtschaft, die sich von einem Land zum anderen deutlich unterscheiden. Das kann man mit herkömmlichen ökonomischen Modellen nicht erfassen. Deswegen können wir Wirtschaftshistoriker – sofern wir auch Ökonomen sind – Krisen wie die aktuelle besser analysieren.

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Ist es frustrierend, dass Politiker und Journalisten trotzdem immer auf die Konjunkturforscher hören und nicht auf die Historiker?

Ein wenig. Aber ich kann verstehen, dass die Politik lieber jemandem zuhört, der behauptet, ein Modell für die wirtschaftliche Zukunft zu haben. Es ist ja auch durchaus was dran an der Konjunkturforschung. In normalen Zeiten kann man mit solchen Modellen schon eine Menge anfangen.

Aber wenn es wirklich darauf ankommt, funktionieren die Prognosemethoden nicht.

Nicht einmal in normalen konjunkturellen Abläufen. Die entscheidende Frage, wo die Wendepunkte von Auf- und Abschwung liegen werden, ist bisher selten richtig beantwortet worden.

Werner Abelshauser / David Gilgen / Andreas Leutzsch (Hg.) Kulturen der Weltwirtschaft Vandenhoeck & Ruprecht 2012

Kultur und Geschichte kommen in den Formeln der Ökonomen nicht vor. In Ihrem neuen Buch "Kulturen der Weltwirtschaft" sagen Sie, dass dies aber ausschlaggebend sei für Wettbewerbsvorteile.

Grundsätzlich unterscheide ich drei Ebenen. Die erste ist die der individuellen Mentalitäten. Das war im 19. Jahrhundert der große Renner: Der Grieche ist faul, der Deutsche fleißig, der Spanier stolz. An Stammtischen und auch an manchem Redaktionstisch ist das heute noch ein Thema. Aber dieser Blick auf wirtschaftliche Sekundärtugenden ist wenig hilfreich. Zumindest in Europa sind die individuellen Mentalitäten nämlich relativ ähnlich. Der italienische Arbeiter ist nach meiner Erfahrung nicht weniger fleißig als der deutsche, eher im Gegenteil. Produktiv und innovativ kann ein Mensch ohnehin nur in einer funktionierenden Gesellschaft werden. Das führt mich zur zweiten Ebene, nämlich den kollektiven Mentalitäten: Gibt es einen funktionierenden Staat? Werden Mechanismen der Inflationsbegrenzung akzeptiert? Da gibt es große Unterschiede in Europa, die sich aus der historisch gewachsenen Organisation von Staat und Gesellschaft erklären.

"Wirtschaftskulturen ändern sich nicht so einfach"

Die größten Staatspleiten
England 1345 Quelle: Gemeinfrei
Österreich 1811 Quelle: Gemeinfrei
Griechenland 1893 Quelle: Gemeinfrei
Lenin Quelle: dapd
Kinder spielen 1923 mit wertlosen Markscheinen Quelle: AKG
Demonstrnten in Buenos Aires, im Jahre 2001 Quelle: AP
Blick auf Rio De Janeiro Quelle: dpa

Das heißt, die Menschen müssen sich einig sein, dass es wichtig ist, zum Beispiel ein Defizit einzuschränken. Und das kann man nicht durch Gesetze erreichen?

Man kann es versuchen, zum Beispiel durch den Vertrag von Maastricht und den Fiskalpakt. Aber so etwas funktioniert in der Regel nicht, weil hinter diesen gesellschaftlichen Mentalitäten noch eine dritte Ebene kommt, nämlich handfeste, sehr widerstandsfähige Wirtschaftskulturen. Mit Gesetzen ist da nichts zu erreichen, da ist Hopfen und Malz verloren.

Man könnte dagegen einwenden, dass wir längst auf dem Weg in eine gemeinsame, globale Kultur sind, die auch die Wirtschaft umfasst.

 Es gibt zweifellos eine globale Popkultur. Und wenn Sie durch die Städte gehen, so sehen die Geschäfte überall auf der Welt zum Verwechseln ähnlich aus. Aber das trifft nicht auf die Organisationsweise der Wirtschaft zu, wie wir in unserem aktuellen Buch zeigen. Je globaler die Märkte zusammenhängen, desto wichtiger wird es, komparative Vorteile zu entwickeln. Bei der Wirtschaftskultur, wie ich sie verstehe, geht es nicht um den Einzelnen und nicht um Gesellschaft und Staat, sondern um die Organisation der Wirtschaft und die Denk- und Handlungsweisen ihrer Akteure. Die Unternehmer, die Gewerkschafter, auch die Konsumenten akzeptieren einfach in manchen Regionen der Welt besondere Spielregeln, weil sie sich davon Vorteile versprechen. Und diese ändern sich nicht so einfach. Die Banken haben in Deutschland und Mitteleuropa zum Beispiel die historische Erfahrung gemacht, dass es für unsere Wettbewerbsfähigkeit gut ist, über geduldiges Kapital zu verfügen. Dass es gut ist, eine langfristige unternehmerische Perspektive  zu finanzieren.

Aber hat sich das nicht gerade geändert? Ist die Deutschland AG nicht  passé?

Wir haben noch die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken - fast 60 Prozent des Bankensystems. Und die bringen diese Geduld immer noch auf. In England und Amerika ist das sehr selten. Deren komparativer Vorteil ist das Risikokapital – was auf vielen Märkten ebenfalls wichtig ist. Man kann nicht sagen, die einen sind schlechter organisiert als die anderen. Das deutsche Bankensystem ist so wie es ist, weil die hiesige Produktionsweise es so erfordert. Das ist historisch so gewachsen: Wir sind auf nachindustrielle Maßschneiderei ausgerichtet, und die braucht eine langfristige Finanzierung. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht.

Die verborgenen Schätze der Krisenländer
Griechenland - Schwieriger PrivatisierungsplanDer griechische Staat besitzt Unternehmensbeteiligungen im geschätzten Wert von 34 Milliarden Euro. Hinzu kommt staatlicher Grundbesitz, den die Regierung in Athen auf rund 280 Milliarden Euro taxierte. Doch die Privatisierung der Besitztümer kommt nicht so richtig in Gang. Bisher konnten nur 1,8 Milliarden Euro durch Privatisierungen eingenommen werden. In diesem Jahr soll nach Aussage der Regierung nur noch die staatliche Lotterie und ein Gebäude in Athen verkauft werden. Das hier zu sehende Parlamentsgebäude in Athen steht jedoch nicht zum Verkauf. Quelle: dpa
Der griechische Staat soll mehr als 50 öffentliche Unternehmen besitzen, vom Athener Gemüse-Großmarkt über Hafenanlagen bis zu den Staatsbahnen OSE. Doch die meisten Unternehmen schreiben rote Zahlen und sind deshalb schwer zu verkaufen. Das ist allerdings die einzige noch verbleibende Vermögensquelle des Landes: Die Gold- und Devisenreserven sind auf gerade mal 5,8 Milliarden geschmolzen. Immerhin befinden sich noch 244 Milliarden Euro an Geldvermögen im Besitz der Bürger. Quelle: dpa
Portugal - Versteckte GoldreservenGemessen am Bruttoinlandsprodukt hat Portugal mit sechs Prozent die größten Gold- und Devisenreserven der Euro-Zone: 18 Milliarden Euro ist der Schatz der Notenbank wert. Doch laut Gesetz kann die Zentralbank dem Finanzministerium nur jedes Jahr die Erträge aus Zins- und Wertpapiererträgen überweisen - das Gold kann also nicht zur Schuldentilgung verwendet werden. Portugals Privathaushalte besitzen ein Geldvermögen von immerhin 384 Milliarden Euro. Ein Teil davon stünde für eine Vermögensabgabe und damit zur Sanierung der Staatsfinanzen zur Verfügung. Quelle: dpa
Außerdem befinden sich Unternehmensbeteiligung im Wert von 32 Milliarden Euro im Besitz des Staates. Der aktuelle Sanierungsplan der Troika sieht acht Milliarden Euro aus Privatisierungserlösungen vor - bisher nahm die Regierung circa drei Milliarden Euro ein. Derzeit stehen noch der Flughafenbetreiber ANA, das Energieunternehmen GALP sowie die Fluggesellschaft TAP zum Verkauf, für die sich auch die Deutsche Lufthansa interessiert. Quelle: dpa
Irland - Die Angst vor dem RamschverkaufDie Regierung in Dublin (Foto) hat der Bevölkerung versichert, sie lasse sich von den internationalen Geldgebern nicht zu einem „Ramschverkauf" von Staatsvermögen zwingen. Geschätzt wird der Wert der Unternehmen in Staatsbesitz auf knapp 22 Milliarden Euro geschätzt. Die in der Krise verstaatlichten Banken sind jedoch nach wie vor defizitär und praktisch unverkäuflich. Irlands Refinanzierungsbedarf bis Ende 2013 beläuft sich auf knapp zwölf Milliarden Euro. In der nächsten Zeit stehen die Privatisierung der Lotterie, der Ländereien und Holtzwerke, des Gasversorgers BGE an und der restliche 25-Prozent-Anteil an Aer Lingus an. Quelle: dapd
Darüber hinaus besitzt der irische Staat ganz oder teilweise ein Dutzend Häfen, mehrere Nahverkehrs- und Busunternehmen, die Eisenbahn, Stromversorger, den staatlichen Rundfunk- und TV-Sender RTE und die Nationale Agentur für Ölreserven. Dieses Portfolio soll aber offenbar nicht privatisiert werden Bei den eigenen Gold- und Devisenreserven ist für das Land, dessen Banken voll von der Finanzkrise getroffen wurden, nichts mehr zu holen. Der "Staatsschatz" beträgt nur noch 1,4 Milliarden Euro. Dagegen besitzen die Privathaushalte ein Geldvermögen von 297 Milliarden Euro, das zum Teil durch eine Vermögensabgabe abgeschöpft werden könnte. Quelle: dapd
Italien - Reiche leben das Dolce VitaRegierungschef Mario Monti (Foto) will 26 Milliarden Euro will er binnen drei Jahren im Haushalt einsparen. Auch von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnte Privatisierungen sind kein Tabu, um den Schuldenberg von fast zwei Billionen Euro abzubauen. Und hier ist einiges zu holen: Der Immobilienbesitz des Landes wird auf bis zu 370 Milliarden Euro geschätzt, hinzu kommen Unternehmensbeteiligungen für mehr als 100 Milliarden Euro. Viele Immobilien lassen sich allerdings nicht sofort zu Geld machen, weil sie Ministerien oder Ämter beherbergen. Aus ihrem Gebäudebestand will die Regierung nun Immobilien im Wert von rund 40 Milliarden Euro über Fonds verkaufen. Bei der Privatisierung von Staatsunternehmen zögert sie noch, weil der Versorger Enel und der Ölkonzern Eni, an denen der Staat je ein Drittel hält, lange als Dividenden-Garanten galten. Quelle: Reuters

Schauen wir mal auf die Eurozone. Was unterscheidet die deutsche Wirtschaftskultur von der der Mittelmeerländer?

Da kann man weit zurückgehen. Seit rund tausend Jahren gibt es die Handelsachse der Hanse von Flandern über Skandinavien bis Nowgorod. Dann gibt es ebenfalls seit vielen Jahrhunderten die Achse von Flandern über die Champagne nach Genua und die von Flandern über Köln, Frankfurt, Augsburg und Nürnberg nach Venedig. Das sind gewachsene Wirtschaftsräume, die zu einer Vereinheitlichung des Denkens und Handelns geführt haben, also zu einer relativ einheitlichen Wirtschaftskultur. Deutschland ist also eingebettet in eine gewachsene Wirtschaftskultur, die von Skandinavien bis Norditalien, von der Seine bis an die Oder reicht. Die Entstehung ihrer heute noch gültigen Ausprägung kann man ziemlich genau festmachen in der langen Depression von 1873 bis 1896. Es war keine Depression der Löhne und Arbeitsmärkte, sondern eine der Renditen. Da das ausländische Kapital Deutschland verließ und es wenige investitionswillige Wirtschaftsbürger gab, mussten die Universalbanken die langfristige Finanzierung der neuen Industrien übernehmen. Und dann veränderten sich auch die Arbeitsbeziehungen spätestens in den 1890er Jahren mit dem Aufstieg der Gewerkschaften und der Einführung der Mitbestimmung. Denn die neuen Industrien, die Chemie, die Elektrotechnik, der Maschinenbau brauchten qualifizierte Arbeiter. Hire and Fire kam da teuer zu stehen. Die von Bismarck für die Sozialversicherung eingeführten paritätischen Ausschüsse wurden daher zu Mitbestimmungsgremien – ohne gesetzliche Grundlage übrigens, die kam erst 1920.

Und wie sieht es nun südlich von Genua aus?

Ich will nicht behaupten, diese Länder hätten keine Wirtschaftskultur. Sie haben eine andere. Nur funktioniert sie gegenwärtig nicht allzu gut. Die südeuropäischen Krisenländer haben eines gemeinsam, nämlich die Schwäche des Staates und der Gesellschaft. Die Ursache dafür liegt in rückständigen feudalen Strukturen und im Falle Griechenlands und Süditaliens außerdem in jahrhundertelanger Fremdherrschaft, die dazu führte, dass der Staat als Feind betrachtet wurde. Und wenn der Staat schwach ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Unter solchen Bedingungen fällt es schwer, Haushaltslöcher zu stopfen, die Staatsverschuldung zu bremsen oder die Korruption zu bekämpfen. Nicht zufällig haben all diese Länder faschistische Diktaturen erlebt. Die Faschisten wollten die Schwäche des Staates durch autoritäre Ordnung überwinden. Sie scheiterten. Die Europäische Gemeinschaft hat diese Länder an sich gebunden, damit sie nicht zurückfallen in autoritäre Politikmuster.

"Man hat zu sehr auf die Ökonomen gehört

König Otto, ein Sohn des bayrischen Königs, herrschte von 1832 bis 1862 in Griechenland. Mit mitteleuropäischen Vorstellungen von Staatsgewalt und Steuermoral hatte er wenig Erfolg. Seine Untertanen verjagten ihn schließlich.

Leidet die europäische Einigungspolitik also unter Geschichtsblindheit?

Man hat zu sehr auf die Ökonomen gehört. Die sagten, das kriegen wir schon hin, wir öffnen die Märkte, investieren, und dann wird sich alles angleichen. So kam es aber nicht, und man hätte es wissen können. Aus der Erfahrung Italiens. Dessen Eliten sind seit 150 Jahren nicht in der Lage, das Land zu vereinheitlichen. Kollektive Mentalitäten ändern sich nicht so einfach – die Wirtschaftskultur sowieso nicht.

Aber es gibt doch durchaus positive Beispiele aus der Wirtschaftsgeschichte.

Das beste Beispiel ist Japan. Japan hatte auch vor der Öffnung des Landes und der Meiji-Restauration eine funktionierende Wirtschaftskultur. Aber sie war international nicht wettbewerbsfähig. Und das haben die Japaner sofort verstanden, als 1853 die amerikanischen Kanonenboote vor ihrer Küste aufkreuzten. Da haben sie gewaltige Arbeit geleistet, Studiengruppen in die ganze Welt entsandt und sich informiert, wie man das Land und die Wirtschaft besser organisieren kann. Die größte Leistung war, alles im Rahmen der japanischen Traditionen laufen zu lassen. Denn eine Wirtschaftskultur kann man nicht gegen starken Widerstand aufzwingen, das geht nicht. Sie muss mit den herrschenden Denkweisen kompatibel und für die Menschen akzeptabel sein.

Die Japaner haben es aus eigener Kraft geschafft, zur Wirtschaftsgroßmacht zu werden. Den Südeuropäern wird durch die Kohäsionsfonds der EU seit vielen Jahrzehnten von den Mittel- und Nordeuropäern geholfen. War das vielleicht sogar ein Fehler?

Das Problem ist nicht die Hilfe an sich, sondern wie geholfen wird. Bis jetzt glauben die Europäer, Harmonisierung sei der Weg zum Erfolg. Aber auf der Ebene der Wirtschaftskulturen ist das falsch. Man muss feststellen, wo die Vorteile unserer Wirtschaftskulturen  liegen – und zwar auf ihre jeweiligen Märkte bezogen. Und dann muss man sie stärken, auch wenn dies differenzierte Strategien der Wirtschaftspolitik erfordert. Das ist natürlich eine Herkulesaufgabe. Brüssel wäre damit völlig überfordert.

Und was machen wir nun mit einem Land wie Griechenland?

Es ist keine Lösung, Griechenland aus der EU zu werfen. Ich denke, man könnte Griechenland im Rahmen der EU helfen, Staat und Gesellschaft zu stärken – obwohl ich nicht weiß, wie genau das gehen soll. Aber eine Wirtschaftskultur wie die griechische in die Disziplin einer Hartwährungsunion einzubinden, das ist völlig absurd.

Die Instrumente zur Euro-Rettung

"Eine gesamteuropäische Alternative zum Euro"

Der Inbegriff einer harten Währung: Die D-Mark. Quelle: AP

Muss auch für den Rest Europas der Fehler Währungsunion korrigiert werden?

Die Politik folgt ihrer eigenen Pfadabhängigkeit, wenn es um Europa geht. Die Regierungen werden erst handeln, wenn sie von den Verhältnissen gezwungen werden. Wenn der Leidensdruck sehr groß ist, werden sie rasch handeln müssen. Denn wenn der Euro unkontrolliert auseinanderfällt, geht das große Hauen und Stechen los. Das wäre eine Katastrophe.

Was meinen Sie konkret mit Handeln?

Eine Alternative zum Euro schaffen. Und in diesem Fall sollte die deutsche Regierung nicht sagen: Wir kehren zur DM zurück. Sondern: Wir wollen die währungspolitische Spaltung Europas überwinden, indem wir ein gesamteuropäisches Währungssystem schaffen, das Euro- und Nichteuro-Länder umschließt. Dieses System wäre auf nationalen Währungen begründet, die durch festgelegte Kurse verbunden sind. Natürlich muss man vorher geschickt vorfühlen, damit möglichst viele Länder mitmachen. Vielleicht würden ja die Finnen diese Arbeit für uns übernehmen.

Würde die zu erwartende Aufwertung der deutschen Währung dann nicht auf Kosten der Exportindustrie gehen?

Nein, das ist ein Denkfehler vieler Ökonomen: Wenn Deutschland seine Währung aufwerten würde, sei die Wettbewerbsfähigkeit im Eimer. Das ist nicht wahr. Wir haben es ja im Europäischen Währungssystem vor der Euro-Einführung mehrfach erlebt. Zwischen 1978 und 1999 ist Frankreich fünf Mal und Italien vier Mal aus dem System ausgestiegen, um den Franc oder die Lira deutlich abzuwerten. Wir haben selbst mehrmals aufgewertet. Und daran ging unsere Wirtschaft nicht zu Grunde. Die Deutschen konkurrieren eben nicht über den Preis. Sie stellen maßgeschneiderte Qualitätsprodukte her, die kaum ein anderer herstellen kann. Und wenn die teurer werden, werden sie trotzdem gekauft. Die Wirtschaft braucht nicht den Euro, sondern kalkulierbare Kurse. 

Und die offizielle Marschrichtung der Bundeskanzlerin, die Währungsunion zu retten und Souveränität nach Brüssel abzugeben?

Vielleicht hätte das kurzfristig eine gewisse Disziplinierungswirkung. Aber an den wirtschaftskulturellen Unterschieden in der Eurozone wird dieses riskante und teure Manöver kein Jota ändern. Wir können Europa nur weiterentwickeln, wenn wir diese Besonderheiten beachten. Sonst funktioniert es nicht.

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