Die EU steht deshalb – Populismus hin oder her – an einer entscheidenden Wegmarke: Hält das krisengeschüttelte Europa und halten seine Bürger stand, wenn die Integration der Abgehängten vielerorts scheitert? Wenn Rechte die Probleme nutzen wollen, um an den freiheitlichen Prinzipien zu sägen? Und, mindestens ebenso wichtig: Können Europas Sozialsysteme in Zeiten der Freizügigkeit tatsächlich im vollen Umfang erhalten bleiben?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird über diese letzte Frage entscheiden müssen – nicht zuletzt auf Bitten des Bundessozialgerichts. Denn noch ist die Rechtslage reichlich unklar. Einerseits fordert die EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit aus dem Jahr 2004, dass alle EU-Bürger gleich behandelt werden müssen. Anderseits hat der EuGH im Juni 2009 geurteilt, dass es durchaus rechtens ist, wenn Sozialhilfe erst gewährt wird, sobald der Arbeitssuchende eine Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Aufenthaltslandes hergestellt hat. Die Gefahr, dass Einwanderer nur von Sozialleistungen leben könnten, haben die Richter erkannt – und Schutzklauseln erlaubt.
Deutschland schließt deshalb arbeitsuchende Einwanderer von der Grundsicherung aus – theoretisch. Praktisch haben deutsche Sozialgerichte schon gegenteilig geurteilt. Steht also der Gleichheitsgrundsatz der EU über allem? Bis die Richter in Luxemburg diese Frage abschließend klären, wird Zeit vergehen.
EU-Sozialrechtsexperten können sich aber kaum vorstellen, dass die Richter keinerlei Zugeständnisse an nationale Akzeptanzgrenzen machen: „Vermutlich wird der EuGH Einschränkungen beim Anspruchserwerb von Hartz IV akzeptieren – das ist in Hinblick auf seine frühere Rechtsprechung jedenfalls anzunehmen“, analysiert Maximilian Fuchs, Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Sollte der Ausschluss von Leistungen jedoch keinen Bestand haben, warnt der Sachverständigenrat für Integration und Migration vor gravierenden Folgen: Jede weitere Expansion der „Solidarität unabhängig von jeder Erwerbstätigkeit, die über das ohnehin schon etablierte Maß hinausgeht, kann ihre Akzeptanz auf eine schwere Probe stellen“, heißt es im aktuellen Jahresgutachten. Es bestehe das Risiko, dass „in Staaten mit einem hohen sozialen Schutz die nationalen Mindeststandards sinken“, wenn das Leistungsniveau für eine steigende Zahl von Empfängern irgendwann nicht mehr finanziert werden könnte.
Die Freizügigkeit erhöht ohne Zweifel den Druck auf die westlichen Sozialsysteme – weil diese Sehnsüchte in den EU-Ostländern wecken, deren Wohlstand etwa das Niveau Kasachstans oder Costa Ricas hat. Es sind Städte wie das bulgarische Varna, von wo aus sich Roma aufmachen Richtung Deutschland. Jeder fünfte der 340 000 Einwohner in der Hafenstadt am Schwarzen Meer ist ein Roma. Die meisten von ihnen leben in sogenannten Mahalas, Slums weit weg vom Stadtzentrum.
Eine der größten dieser Siedlungen klebt an einem Berghang oberhalb einer viel befahrenen Schnellstraße. Eine Schlaglochpiste schlängelt sich hoch zu halb verfallenen Hütten aus Brettern, Blech und alten Ziegelsteinen. Manche der Dächer sind mit Plastiktüten abgedichtet. In den Gassen hocken bärtige Männer in zerrissenen T-Shirts. Zwischen Müllbergen liegt ein ausgebranntes Auto; ein Esel wühlt im Müll. Dazwischen rennen nackte Kinder einem alten Fußball hinterher.