Zuwanderung Auf Wanderschaft in Europa

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Wachstum durch Zuwanderung im Osten Deutschlands

Wer arbeitet am härtesten in Europa?
Hier fasst sogar die Kanzlerin mit an. Dieses Bild vermittelt Angela Merkel zumindest bei der Versammlung der Schornsteiger-Innung in Mecklenburg-Vorpommern. Dass Merkel in den vergangenen Jahren zu Hause oder im Kanzleramt den Besen geschwungen hat, darf bezweifelt werden. Aber sie steht einer arbeitsamten Nation vor. Das jedenfalls glauben die Bürger in Europa, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov unter insgesamt 7.573 Personen in sieben europäischen Ländern zeigt. Quelle: dpa
Für viele Deutsche ein Schreckensort, den man nicht gern aufsucht: die Arbeitsagentur. Doch vielleicht trägt auch die seit den Hartz-Reformen von 2003 geltende Politik des Förderns und Forderns, für welche die Arbeitsagentur Sinnbild geworden ist, dazu bei, dass die Deutschen immer bemüht und beschäftigt wirken. In allen einbezogenen Ländern sahen die Befragten die Deutschen als fleißigste der 27 EU-Nationen an, in Deutschland selbst sehen das 46 Prozent der 1.033 Befragten so. Quelle: dpa
Die Deutschen sind für ihr Handwerk weltbekannt, das als ordentlich, vertrauenswürdig und pünktlich gilt. Das ist sicher ein ideales Zerrbild, hier im Kreis Biberach mit der niedrigsten Arbeitslosenquote in Baden-Württemberg symbolisch in Stein gefasst. Doch offenbar prägt die robuste Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die mit Sicherheit auch auf das Konto des produzierenden und baulichen Gewerbes mit seinen relativ stabilen 10,3 Millionen Arbeitsplätzen geht, das deutsche Image im europäischen Ausland. Quelle: dpa
Ebenfalls europäische Musterschüler sind – aus der Sicht der Deutschen – die Schweden. Zwölf Prozent der Befragten nennen die Wahlheimat von Fußball-Arbeitstier Zlatan Ibrahimovic die „am härtesten arbeitende Nation“. Vielleicht liegt der Anschein aber auch in dem Glamour und der Ordnung begründet... Quelle: dpa
...die man einer konstitutionellen Monarchie instinktiv zuordnet. Die Hochzeit von Prinzessin Madeleine und Christopher O'Neill am 8.Juni hat sicher auch eine Menge Arbeit bereitet, in die sich schwedische Angestellte stürzen durften. Quelle: dpa
Kritiker monieren, der Eindruck täusche. Angesichts von mehr und mehr Stellen im Niedriglohnsektor – 2012 nach offiziellen Zahlen 7,5 Millionen Menschen oder knapp 23 Prozent der Erwerbstätigen und damit – herrsche auf dem deutschen Arbeitsmarkt alles andere als eine gute Situation. Laut Statistischem Bundesamt waren 2010 rund 52 Prozent der ausschließlich in einem Minijob Beschäftigten damit unzufrieden, wollten eine volle Stelle. Nicht für alle arbeitswilligen Bürger gibt es die passende Arbeit, doch das trübt offenbar das Bild der Deutschen im Ausland nicht, von Hartz-IV-Schmarotzern spricht dort keiner. Quelle: dpa
Das Bild ist sogar so positiv, dass etliche Personen aus anderen Ländern nach Deutschland zum arbeiten kommen. Etwa diese rumänischen und polnischen Erntehelfer, die Spreewaldgurken sortieren. Die Deutschen bewerten ihre Nachbarn hingegen zurückhaltend. Während Polen in der YouGov-Umfrage noch ziemlich gut abschneidet und gemeinsam mit Großbritannien und den Niederlanden zumindest von zehn Prozent der deutschen Bürger als arbeitsamste Nation angesehen wird, landet Rumänien abgeschlagen auf Platz 13 von 27 bewerteten Ländern. Quelle: dpa

Die meisten Roma in Varna sprechen kein Bulgarisch. Kaum jemand kann lesen und schreiben. Einige der Bewohner sammeln Schrott und verdienen damit ein paar Cent am Tag. Lokale Mafiabanden dagegen verdienen an den Ärmsten der Armen viel. In den Hütten machen Geschichten von Roma, denen Organe entnommen wurden, die Runde. Drogen- und Babyhandel seien üblich, berichten Hilfsorganisationen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Heimat haben die meisten längst aufgegeben. Zustände wie in Varna treiben viele in den Westen. „Auswandern nach Deutschland lohnt auf jeden Fall“, sagt der 16-jährige Isis, „das Geld dort ist gut, und es ist schnell verdient.“

Die volle Freizügigkeit für alle Bulgaren und Rumänen wird die EU deshalb in Zukunft vor weit größere Anpassungsprobleme stellen, als dies bisher der Fall war. Wie sehr Deutschland aber bisher von Arbeitskräften aus dem Osten profitiert hat, wird nahe der Grenze deutlich. In Pasewalk zum Beispiel: Straßenschilder auf Deutsch und Polnisch, polnische Ärzte im örtlichen Krankenhaus. Vor zehn Jahren hat die EU-Osterweiterung das Leben in der Region verändert. Seither zogen Tausende Polen nach Vorpommern oder in die Grenzregionen Brandenburgs. Sie füllten leer stehende Plattenbauten als Mieter, kauften Häuser in Schrumpfgemeinden oder machten sich als Kleinunternehmer selbstständig.

„Natürlich gab es da auch eine Sozialneiddebatte“, sagt die Landtagsabgeordnete Beate Schlupp (CDU) aus dem grenznahen Uecker-Randow heute. Gerüchte hätten die Runde gemacht, dass ganze Wohnblöcke nun von Polen bewohnt seien und diese Wohngeld vom deutschen Staat bezögen. Doch vor allem gewinnt die einst abgelegene Gegend: „Ohne Stettin hätten wir keine eigene Kraft zu wachsen“, sagt Schlupp.

Die Grenzgemeinde Löcknitz lässt sogar neue Baugebiete ausweisen – in einer ehedem abgehängten Region. Ein Kindergarten wurde neu gebaut, die Schule erweitert. Jeder zehnte der rund 3000 Einwohner kommt aus dem Nachbarland, etliche arbeiten in Deutschland. Die Älteren auf dem Land sind aus Sicht Schlupps auch für die Neuen. „Sie merken, dass sie jetzt im Dorf nicht mehr die Letzten der Bastion sind, wenn polnische Familien zuziehen.“

Doch die Reibung, die durch das Fremde und durch einsatzfreudige Neulinge entsteht, ruft in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo auch immer wieder die rechtsextreme NPD auf den Plan. Leider, sagt Schlupp, verfange diese „undifferenzierte Stimmungsmache“ bei manchen. In einigen Örtchen holt die NPD bei Wahlen deshalb bis zu einem Drittel der Stimmen.

Für die Europawahl ist das alles andere als ein gutes Zeichen.

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