„Kein göttlicher Akt“ Interview mit Katastrophenforscherin Guha-Sapir

Debarati Guha-Sapir über die Folgen von Naturkatastrophen und die Chancen zur Risikovorsorge. Guha-Sapir ist Professorin für öffentliche Gesundheit an der Katholischen Universität Löwen in Belgien und leitet dort ein an die Weltgesundheitsorganisation angegliedertes Zentrum für Katastrophenforschung.

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Frau Guha-Sapir, stimmt der Eindruck, dass Katastrophen wie Erdbeben und Überflutungen in jüngster Zeit immer häufiger auftreten? Erdbeben und Vulkanausbrüche haben geologische Ursachen – und ereignen sich jetzt nicht häufiger als früher. Dagegen hat die Zahl von Überschwemmungen zugenommen. Dies ist eine Folge klimatischer Veränderungen, der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung und dem Abholzen von Wäldern. Was aber in allen Fällen dramatisch zugenommen hat, ist die Zahl der Opfer. Dies liegt daran, dass immer mehr Menschen in Risikoregionen leben. Ein Erdbeben, das vor 50 Jahren weniger als 500 Opfer gefordert hätte, kann heute bis zu 20.000 Menschenleben vernichten. Warum haben Naturkatastrophen in Asien besonders verheerende Folgen? Ein zentrales Problem ist die Armut. In den USA zum Beispiel gibt es kaum weniger heftige Katastrophen, es gibt massive Überschwemmungen und die Hurrikans. Aber die Menschen können vorsorgen, sie werden gewarnt. Und die meisten können ihre zerstörten Häuser und Geschäfte wieder aufbauen. All dies gibt es in Asien so nicht. Dort ziehen die Menschen massenhaft in die Städte, um Arbeit zu finden, viele wohnen in schlecht gebauten Hütten, die beim nächsten Erdbeben zusammenbrechen. Die meisten Todesfälle ereignen sich in Slums. Download: Statistiken zu Schäden durch große Naturkatastrophen Was sind die ökonomischen Konsequenzen solcher Katastrophen?  Vielen wird die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz genommen. Die meisten Menschen, die an den Küsten Asiens leben, arbeiten im informellen Sektor. Viele haben weder Ersparnisse noch sonstige Reserven. Ein Fischer etwa, der sein Boot verloren hat, kann sich oft keinen Ersatz leisten. Er ist dann gezwungen, ebenfalls in die Stadt zu ziehen, um dort Arbeit zu finden. So münden Naturkatastrophen in volkswirtschaftlich schädliche Migration und Verelendung. Was kann gegen eine solche Entwicklung unternommen werden? Nötig sind bessere Frühwarnsysteme. Nötig sind aber vor allem auch Systeme, die es ermöglichen, auf solche Warnungen schnell und angemessen zu reagieren. Was nützt es, die Menschen vor einer Sturmflut zu warnen, wenn man ihnen nicht sagen kann, wie sie sich davor retten können? Dies ist keine Aufgabe, die ein Land allein bewältigen kann, hier muss die ganze Region zusammenarbeiten. Außerdem machen wir einen großen Fehler. Wir reden im Zusammenhang mit Naturkatastrophen immer von Notfallhilfe. Wenn wir über wirkliche Prävention für die Zukunft reden, geht es aber vorrangig um Entwicklungspolitik. Was haben die Länder in Asien konkret falsch gemacht? Sie haben bisher beim Aufbau von Frühwarnsystemen nicht kooperiert - und dafür zahlen sie jetzt kollektiv einen hohen Preis. Darüber hinaus haben sie es versäumt, die wirtschaftliche und soziale Lage der Menschen abzusichern, die auf den informellen Sektor angewiesen sind. Es war kein göttlicher Akt, der zu dieser Katastrophe geführt hat. Dass die Folgen so verheerend sind, ist in erster Linie politisches Versagen. Wäre die gleiche Katastrophe in Europa aufgetreten, der Verlust an Menschenleben hätte sicherlich weniger als zehn Prozent betragen.

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