Kolumnen-Plattform Ökonomen wollen sich öffentlich mehr zu Wort melden

Sie wollen volkssprachlichen Fragen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum ein Forum bieten und interessierte Kollegen, aber auch Politiker und Journalisten in ein Netzwerk einbinden: Heute startet die erste unabhängige Kolumnen-Plattform für Volkswirte. Das Handelsblatt ist exklusiver Medienpartner.

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30 Mitglieder aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich hinter der Ökonomenstimme versammelt. Quelle: handelsblatt.com

DÜSSELDORF. Wenn Rüdiger Bachmann abends vor dem Schlafengehen noch mal seine E-Mails checkt, dann besucht er regelmäßig die englischsprachige Kolumnenplattform für Volkswirte Voxeu.org. "Ich kann einfach nicht alles im Blick haben, woran Kollegen zurzeit arbeiten, aber bei Vox bekomme ich in kurzer Zeit einen guten Überblick." Ab heute kann der Makroökonom an der University of Michigan in Ann Arbor auch auf Oekonomenstimme.org stöbern.

Denn heute geht die erste unabhängige Kolumnenplattform für deutschsprachige Volkswirte online. Neben Bachmann haben sich mehr als 30 Gründungsmitglieder aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hinter der Ökonomenstimme versammelt. Darunter Beatrice Weder die Mauro und Peter Bofinger, beide Mitglieder im Sachverständigenrat der Bundesregierung, Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts, und Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft. Das Handelsblatt ist der exklusive Medienpartner für Deutschland.

Ökonomenstimme ist eine von der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich entwickelte Internetplattform. Das Ziel: volkswirtschaftlichen Fragen und Diskussionen im deutschsprachigen Raum ein Forum zu bieten - von Ökonomen für Kollegen, aber auch für Politiker und Journalisten, die sich für volkswirtschaftliche Themen interessieren.

Eine deutschsprachige Web-Seite - auf den ersten Blick erscheint das anachronistisch. Ausgerechnet jetzt, da alle Forscher ihre Ergebnisse auf Englisch präsentieren. Doch die Initiatoren haben gute Gründe und gute Vorbilder.

Bringschulden der Ökonomen, Holschulden der Politik

Die Idee zur Ökonomenstimme kam Jan-Egbert Sturm - selbst Niederländer und Leiter der KOF Konjunkturforschungsstelle. Er fragte sich, warum es sogar in seinem kleinen Heimatland mit "Me Judice" eine erfolgreiche Plattform für Volkswirte gibt, "so etwas aber im großen deutschsprachigen Raum mit Österreich, Deutschland und der Schweiz noch fehlt". Auch in Italien und Frankreich existieren neben dem englischsprachigen Vox erfolgreiche Netzwerke, mit denen die Ökonomenstimme kooperieren wird.

Was die Portale verbindet, sind die Bringschulden der Ökonomen und die Holschulden der Politik. In der Vergangenheit haben die Volkswirte sich zu wenig in die öffentliche Diskussion eingebracht, stellen sie selbstkritisch fest. Und: Viele Politiker, aber auch Journalisten, so bemängeln sie, zeigten bislang zu wenig Interesse an relevanten Forschungsergebnissen.

Richard Baldwin, Professor am Graduate Institute Genf und Gründer von Vox, sieht den Bedarf für den Gedankenaustausch schon länger. Seit dem Start von Vox 2007 hat er beobachtet, wie wertvoll die auf einer immer breiteren Datenbasis beruhenden Forschungsergebnisse von Volkswirten für die Politikberatung sein können. "Nach dem großen Erfolg von Vox auf Englisch wird mit der Ökonomenstimme nun eine weitere sprachliche Lücke geschlossen", sagt Baldwin. Das kann Gebhard Kirchgässner, Direktor des Schweizerischen Instituts für Außenwirtschaft in St. Gallen, nur unterstreichen. Der Austausch mit den Politikern funktioniere nur, wenn diese die Ausführungen auch verstünden. "Und das geht einfach nach wie vor besser auf Deutsch."

Hinzu käme, ergänzt Baldwin, ein Zielkonflikt für erstklassige Ökonomen. "Wer in den renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften publizieren will, muss sich mit Politikempfehlungen zurückhalten." Die Journals mögen das nämlich nicht. Sie wollen Wissenschaft in Reinkultur. Auf Ökonomenplattformen dagegen können die Wissenschaftler beides verbinden.

Ein weiteres Problem vieler Forscher: In guten Journals kann man nur publizieren, wenn man "über die US-Wirtschaft forscht", so die Erfahrung von KOF-Chef Sturm. Es gebe aber genügend Themen, die vor allem für den deutschsprachigen Raum interessant seien.

Viele Forschungsergebnisse verschwinden in den Schubladen

Viele Volkswirte haben auch die Erfahrung gemacht, dass ihre Forschungsergebnisse in den Schubladen der Ministerien oder Notenbanken verschwinden, weil sie auf Englisch geschrieben sind. Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse werden daher bei vielen politischen Entscheidungen gar nicht berücksichtigt. "Dieser Realität müssen wir uns stellen", sagt Kirchgässner. Nationale Ökonomen-Portale könnten abhelfen.

Die erfolgreichen Beispiele aus anderen Ländern belegen das. Vorreiter war "La Voce" in Italien. Tito Boeri, Volkswirt an der renommierten Mailänder Universität Bocconi, hatte bereits 2002 führende Volkswirte seines Landes zusammengetrommelt - sie alle wollten raus aus dem Elfenbeinturm. Und ihre Beiträge sind gefragt. Dabei achten Boeri und Kollegen auf ein hohes Niveau, sie müssen daher viele Beiträge ablehnen. Doch die Auswahl lohnt sich: "Wir haben heute einen Einfluss, mit dem wir nie gerechnet hätten", freut sich Boeri. "Unsere Texte werden im Parlament, von Ministern und in den Zeitungen diskutiert."

Die größte Reichweite erzielt das 2007 gestartete Portal Vox, das am Londoner Center for European Policy Research (CEPR) angesiedelt ist. Durch die englische Sprache wird Vox von europäischen und amerikanischen Lesern gleichermaßen genutzt. Sie stellen zusammen rund 80 Prozent der Leser, die anderen 20 Prozent verteilen sich auf den Rest der Welt. Mittlerweile haben mehr als 1 000 Ökonomen Texte auf Vox veröffentlicht, darunter auch viele Prominente wie die Nobelpreisträger Paul Krugman und Joseph Stiglitz. Eine Kolumne von Barry Eichengreen und Kevin O?Rourke zum Vergleich der aktuellen Krise mit der Großen Depression erreichte 450 000 Leser und animierte viele Zeitungen europaweit zu eigenen Berichten. Täglich schauen 30 000 Nutzer auf die Seite, in den vergangenen vier Monaten waren es sogar mehr als zwei Millionen Seitenaufrufe pro Monat.

Ein Blick in die USA zeigt aber auch, dass Volkswirte auch ohne Portale präsent sein können. Ökonomen wie Paul Krugman, Martin Feldstein und Greg Mankiw sind dort viel besser mit der Politik verdrahtet und am öffentlichen Diskurs beteiligt - durch eigene Kolumnen in Zeitungen und im Netz.

Das Internet ist Fluch und Segen zugleich, es hat die Arbeit der Wissenschaftler revolutioniert. Die Informationen flitzen über die Kontinente, Daten- und Gedankenaustausch sind über Zeitgrenzen hinweg jederzeit möglich. Gleichzeitig nimmt die Datenfülle zu. Kaum ein Forscher kennt alle wissenschaftlichen Beiträge seines eigenen Forschungsgebiets, bei den angrenzenden sieht es noch schlechter aus. Dabei wachsen viele Disziplinen immer enger zusammen. Das gilt natürlich für alle Forscher, für die Ökonomen kommt aber noch etwas hinzu. "Durch die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise werden Ökonomen wichtiger", erklärt Sturm. "Sie müssen ihre Forschungsergebnisse in den politischen Diskurs einbringen, wenn sie nicht für etwas abgestraft werden wollen, was sie gar nicht empfohlen haben."

Reine Weblogs helfen da wenig, weiß Baldwin. "Es fehlt dort ein Filter." Den bieten die Kolumnenportale: Texte, die dort erscheinen sollen, werden von den Redaktionen vorher geprüft. Der Vorteil für die Leser: Sie können sich auf die wissenschaftliche Substanz verlassen.

Klar ist aber auch, dass es nicht jedem Ökonomen gegeben ist, über seine Forschung spannend zu schreiben, gibt Rüdiger Bachmann aus Michigan zu. Er gehört zu den mathematisch orientierten Makroökonomen und hat sich im Methodenstreit der Volkswirte häufig zu Wort gemeldet. Dabei ging es um die generelle Ausrichtung des Faches. Eher mathematisch orientierte Wissenschaftler stritten mit solchen, die ihre Aufgabe eher in der Politikberatung sehen. "Ich habe aus dem Streit auch vieles gelernt", sagt Bachmann rückblickend, "zum Beispiel, dass die Ordoliberalen schreiben können. Da haben wir formalen Ökonomen noch Nachholbedarf."

Ifo-Präsident Sinn gehört zu den wenigen, die bereits in der Vergangenheit ihre Stimme in der Öffentlichkeit erhoben, doch auch er sieht noch Bedarf für ein deutschsprachiges Ökonomenportal. Wer heute politische Konzepte beurteilen wolle, brauche das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge, sagt Sinn. "Die typisch ökonomische Analyse von Wirkungszusammenhängen und Anreizmechanismen schafft häufig überraschende Klarheit in ansonsten emotional geführten Diskussionen."

Bleibt noch die Frage, warum sich die großen deutschen Forschungsinstitute nicht bei einem so wichtigen Thema engagieren. Offenbar sei die Konkurrenz unter den deutschen Instituten zu groß, vermutet Baldwin. Hätte eines ein Portal aufgebaut, hätten die anderen nicht mitgemacht. Anfragen des Handelsblatts bei den Instituten verstärken diesen Verdacht. Dabei scheint der Wettbewerb im Ausland kein Problem zu sein: Voxeu-Betreiber CEPR veröffentlicht ganz selbstverständlich auf der Plattform auch Beiträge vom Konkurrenten Bruegel. Und in Italien stört sich keiner daran, dass LaVoce-Betreiber Boeri in Bocconi forscht.

Jan-Egbert Sturm verwundert es daher nicht, dass sich die Ökonomenstimme aus der Schweiz meldet. "Die Schweiz ist neutral ebenso wie die KOF", sagt Sturm "und die Ökonomenstimme ist es auch." Mitarbeit: Katharina Kort

Ökonomenstimme

Schreiben: Es sind alle Volkswirte eingeladen, ihre Ergebnisse mit Kollegen und Interessierten zu teilen - erwünscht sind vor allem Beiträge in deutscher Sprache. Es werden aber auch Texte von den Partnerportalen übersetzt.

Finden: Die mehr als 30 Gründungsmitglieder werden künftig regelmäßig Kolumnen schreiben. Die Nutzer der Ökonomenstimme können nach Autoren oder Schlagwörtern suchen, im Archiv stöbern oder sich per Newsletter informieren.

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