Abhängig vom Export Russland hängt am Öl wie ein Junkie an der Nadel

Der russischen Wirtschaft geht es gut – solange der Ölpreis hoch ist. Schmiert er ab, steht der Osten vor einer harten und langen Rezession.

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Grafik Indikatoren zur Wirtschaftsentwicklung Russlands

Das geheime Papier, das vor ein paar Tagen aus dem Wirtschaftsministerium durchsickerte, macht mächtig Wirbel. Es handelt sich um eine Studie, die düstere Perspektiven für Russlands Wirtschaft aufzeigt, sofern sich die Euro-Krise weiter verschärft und die Weltkonjunktur in den Keller rauscht: Der Rubel würde um die Hälfte abwerten, die Wirtschaft um 2,7 Prozent schrumpfen – und das bloß, weil sich Russlands Exportschlager Öl im Preis auf 60 Dollar pro Barrel verbilligt.

Das Szenario wirkt übertrieben schwarz. Dennoch legte kurz darauf das russische Finanzministerium nach und kritisierte, die Kollegen seien noch zu optimistisch. Die nächste Rezession, heißt es, werde Russland über mehrere Jahre packen und würgen. Vom früheren Selbstbewusstsein des Rohstoffriesen ist in Expertenkreisen nicht viel übrig geblieben.

Zahlen und Fakten zu Russland

Passable Zahlen

Oberflächlich betrachtet, sind die Zahlen passabel: Im ersten Halbjahr meldete Russland ein Wirtschaftswachstum um 4,4 Prozent, die Inflation lag in den ersten sieben Monaten bei historisch niedrigen 4,5 Prozent, die Arbeitslosigkeit war mit 5,4 Prozent im Juni so niedrig wie nie zuvor. Von schönen Zahlen lässt sich aber in Russland kaum ein Ökonom blenden, denn sie sind allenthalben teuer erkauft, weil der Staat gern mit teuren Finanzspritzen die Wirtschaft aufpäppelt.

Russland ist ein Selbstbedienungsladen. Wie im Speisewagen der Bahn bestellt die Welt bei den Russen das, was sie gerade braucht – Öl und Gas, Stahl und Nickel, im Sommer etwas Weizen, im Winter Kohle. Wenn die Weltwirtschaft schwächelt und die Nachfrage einbricht, trifft das Russland umso heftiger – außer konjunktursensiblen Rohstoffen hat das Land kaum Güter oder Dienstleistungen, die die Welt auch in Krisenzeiten braucht.

Russlands Wirtschaftsmodell und Konjunkturkrisen

Russlands Wirtschaftsmodell ist deshalb besonders anfällig für Konjunkturkrisen. Eine gehörige Mitschuld daran trägt Wladimir Putin, seit Mai wieder im Amt des Präsidenten. Auf seine Krisenbekämpfung ist der 59-Jährige stolz, er rühmt sich, mit eiserner Faust das Leid der Rezession persönlich vom gemeinen Russen fernzuhalten – mit Staatskonsum und Sozialleistungen. Dies hat den Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den vergangenen Jahren auf über 38 Prozent steigen lassen, wobei der Haushalt wiederum zur Hälfte über Öl- und Gasexporte finanziert wird.

Was ein Preisverfall am Ölmarkt zur Folge haben kann, zeigte sich im Mai und Juni: Das Wachstum fiel zum Sommeranfang unter vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr, die Industrieproduktion schrumpfte. „Die verarbeitende Industrie zeigt Anzeichen von Stagnation“, gibt das Wirtschaftsministerium zu. Die Experten von der Higher School of Economics verweisen darauf, dass sich das Wachstum von Quartal zu Quartal bereits seit Mitte 2011 verlangsamt hat und jetzt zum Erliegen gekommen ist. Auch wenn sich die Situation im Juli etwas gebessert hat, wird die Regierungsprognose von vier Prozent plus beim BIP bis Jahresende nicht zu halten sein.

Geld floss in Staatshilfen

Putins beste Sprüche
Putins beste Sprüche„Ich weiß nicht, womit sie heizen wollen. Atom wollen sie nicht, Gas wollen sie nicht. Wollen sie wieder mit Holz heizen?“ Putin über die Energiedebatte in Deutschland, November 2010
„Wir werden unser Volk nicht vergiften.“  Zum Importverbot für EU-Gemüse wegen Ehec, 11.6.2011
„Wo man nicht zusammen kommen kann, bekommt man den Knüppel auf die Rübe“   Zum Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten, 6.9.2010.
„Wer das getan hat, wird den Preis dafür bezahlen und im Suff oder Drogenkonsum enden“ Über den Verrat russischer Spione in den USA, 2.8.2010.
„Ich habe vielleicht in der Universität nicht das allermeiste gelernt, weil ich in der Freizeit viel Bier getrunken habe. Aber einiges habe ich doch behalten, weil wir sehr gute Dozenten hatten.“ Über sein Studium, Mai 2005.
„Die Russen kommen hier nicht mit Kalaschnikow und mit Panzern her, sondern Russland bringt das Geld mit.“ Zu Investitionen russischer Unternehmen in Deutschland, Oktober 2006.
„Niemand will, dass die G8 zu einer Ansammlung fetter Kater wird.“ Über die Rolle Russlands in der Gruppe der führenden Industrienationen, Januar 2006.

Bis zur jüngsten Krise präsentierte sich das Land ungleich kraftvoller. Russland sei ein sicherer Hafen für Kapital aus aller Welt, tönte der damalige Finanzminister Alexej Kudrin, als westwärts nach der Lehman-Pleite schon die Börsen crashten. Russland gefiel sich in der Rolle einer neuen Wirtschaftslokomotive der Welt mit Wachstumsraten um die acht Prozent pro Jahr. Die Regierung träumte, Moskau zu einem globalen Finanzzentrum wie London und New York auszubauen. Als Russland dann aber doch in den Sog der Weltwirtschaftskrise geriet, platzten die Träume im Nu. Das Geld, welches Russland in den Jahren zuvor angehäuft hat, floss in massive Staatshilfen für Industrie und Banken, um sie vor der Pleite zu retten.

Wladimir Tichomirow glaubt daher bestenfalls an drei Prozent Wachstum. Der Chefökonom der Finanzgesellschaft Otkrytie sieht neben wegbrechenden Rohstoffeinnahmen und der schwächelnden Konjunktur in Europa ein spezifisch russisches Problem: Der Staat habe seine Ausgaben zur Duma-Wahl im vergangenen Dezember so stark hochgefahren, dass eine weitere Steigerung unmöglich ist – und damit auch die fiskalische Stimulation des Wachstums, auf die Putin so gern setzt.

Russische Konsumfreude

Vielmehr muss der Kreml darüber nachdenken, wo gespart werden kann, sagt Tichomirow. Das ist eine ungewohnte Situation für Putin und seinen expansiv orientierten Apparat. Hinzu kommt: Die Gewinne der Privatunternehmen schrumpfen. Dmitrij Polewoj von der ING-Bank warnt: „Wenn man bedenkt, dass russische Unternehmen ihre Investitionen zur Hälfte aus Eigenmitteln finanzieren, schlägt ein Gewinneinbruch schnell auf das Wachstum durch.“ Die Unternehmen streichen über Nacht Investitionspläne zusammen.

Nach dem Ausfall von staatlichen und privaten Investitionen bleibt die Konsumfreude der Russen als letzte Konjunkturstütze. Die Kauflaune der Russen ist zwar niedriger als vor einem Jahr, aber höher als die Wachstumsraten bei Exporten und Industrieproduktion. Für den stabilen Konsum sind nicht nur gestiegene Sozialausgaben und üppige Lohnerhöhungen bei Polizei und Militär verantwortlich. Beeindruckend ist vor allem die Rolle der Banken, die zuletzt deutlich mehr Kredite für Autos, Möbel oder Elektronik vergaben. Insgesamt legte der Umsatz im Einzelhandel im vergangenen Halbjahr um mehr als sechs Prozent zu.

Gestiegene Kreditzinsen

Die meisten Experten sind sich indes sicher, dass der private Konsumboom die russische Wirtschaft nicht vor der Rezession retten kann. Zwar wird der Staat wohl als Letztes bei den Sozialausgaben sparen. Die Banken können die Kreditvergabe allerdings nicht ewig mit dem gleichen Tempo ausweiten. Schon heute wird es schwierig für die Institute, sich im Ausland mit günstigem Kapital einzudecken. „Kredite aus dem Ausland sorgten vor 2009 für kräftigen Kapitalzufluss und ließen Konsum und Investitionen in die Höhe schnellen. Das ist nun vorbei“, erklärt Tichomirow.

Zumal die Währungshüter nachhelfen: Die Zentralbank hat die Politik des steigenden Rubels aufgegeben, die früher die Kapitalbeschaffung im Ausland begünstigt hat. Dagegen haben die Regulierer in Moskau die Inflation ins Auge gefasst. Die Leitzinsen liegen mit acht Prozent sogar noch über der Teuerungsrate und könnten laut Erwartungen von Analysten weiter steigen. Die Folgen für die gedrosselte Geldentwertung tragen die Unternehmen. Die Kreditzinsen sind dieses Jahr von acht auf zehn Prozent gestiegen, der Anteil der Unternehmenskredite im Portfolio der Banken ist so niedrig wie seit fünf Jahren nicht mehr. Und die direkten Auslandsschulden russischer Unternehmen sind seit 2008 fast auf demselben Niveau geblieben.

Investitionen und Wachstum

Moskau lockt mit Models und Motoren
Model mit Mitsubishi Outlander auf dem Internationalen Automobil-Salon in Moskau (MIAS). Die Messe, bei der nur wenige Premieren, aber dafür umso mehr PS-protzige Autos und knapp bekleidete Messehostessen im Vordergrund stehen, läuft bis zum 9. September.Und es geht lebhaft zu in Moskau. Nicht nur auf den Straßen wird gedrängelt, sondern auch auf der Messe. Der boomende russische Automobilmarkt hebt die Stimmung in diesem Jahr auf Rekordniveau. Quelle: dpa
Auf dem MIAS präsentieren sich die rund 100 internationalen Hersteller mit pompösen Messeständen, neuen Modellen und anderen Schönheiten. Der vom roten Bodysuit verdeckte Outlander wurde von Mitsubishi aufgestellt. Quelle: dpa
Ein besonderes Highlight: Das erste SUV von Lamborghini, das auf den Namen Urus hört. Der scharf geschnittene und 440 kW/600 PS starke Geländewagen, traditionell wieder benannt nach einem Kampfstier, soll Lamborghinis dritte Baureihe werden und der italienischen Marke das Überleben sichern. Noch ist der Urus aber ein Concept Car. Eine Serienversion des Super-SUV dürfte aber in vier Jahren auf der Straße sein, auf Basis der nächsten Audi-Q7-Generation. Bis dahin werden zumindest die Außenspiegel überarbeitet ... Quelle: dpa
Über eine Million Besucher werden an den Ausstellungstagen bis zum 9. September 2012 in den sieben Hallen erwartet. Die Mischung der Aussteller ist bunt, die Platzverteilung eigen: Hyundai beansprucht mit einer eigenen Halle mehr Platz als der Marktführer Lada. Die deutschen Konzerne BMW und Volkswagen stellen bei der Messe ihre kompletten Markenpaletten vor. Auch Individualisten-Autos wie Rolls Royce oder Bentley verzeichnen eine steigende Nachfrage. Im Bild: Der Skoda Yeti Sochi 1.4 TSI DSG. Quelle: dpa
Der Rubel rollt. Russland gewinnt für die Autohersteller immer mehr an Bedeutung. Knapp 2,5 Millionen Neuzulassungen waren es im vorigen Jahr. Glaubt man den Prognosen, könnte das Riesenreich schon 2013 Deutschland den ersten Rang streitig machen. Mazda nutzt die diesjährige Motorshow sogar erstmals für eine Weltpremiere. Debüt feiert die dritte Generation der Mittelklasse-Limousine Mazda6. Sie wird am 2. Februar zusammen mit dem ebenfalls brandneuen Kombi in Deutschland auf den Markt kommen. Die Preise sollen bei unter 25 000 Euro beginnen ... Quelle: Presse
Wer beim Wort „Stufenhecklimousine“ an Langeweile denkt, liegt beim Mazda 6 völlig falsch. Designer Akira Tamatani hat ein elegantes, sportliches und gut proportioniertes Auto kreiert , das fast einem viertürigen Coupé gleicht. Im Segment dürfte der Japaner damit weit vorne liegen. Zumal auch technisch ein Riesensprung gemacht worden ist. Der Mazda 6 ist nach dem CX-5 das zweite Modell der Marke, das auf der sogenannten SkyActiv-Technologie basiert. Hierzu zählen neue, sparsame Antriebe, ein neues Fahrwerk sowie eine neue und leichte Karosseriestruktur. Mit einer Länge von 4,86 Metern ist der neue Mazda 6 elf Zentimeter länger als der Vorgänger, wiegt aber satte 100 Kilogramm weniger. „Dies wird sich in der Agilität und im Verbrauch bemerkbar machen“, verspricht Chef-Entwickler Hiroshi Kajiyama. Quelle: Presse
Auch BMW hatte seinen überarbeiteten 7er im Vorfeld bereits in Russland präsentiert. Der Markt für Luxuslimousinen wie den 760 xDrive verlagert sich schon seit Jahren ostwärts. Das gilt insbesondere für Langversionen. Quelle: dpa

Auf der Strecke bleiben die Investitionen – und letztlich auch das Wachstum. Deutsche Unternehmen spüren das bisher kaum. Bei einem Volumen von 35 Milliarden Euro haben die Exporte deutscher Waren nach Russland voriges Jahr einen neuen Rekord erklommen. „Dass der Handel boomt und gleichzeitig die heimische Industrie lahmt, zeigt wie wenig konkurrenzfähig russische Konsumgüter sind“, erklärt ING-Experte Polewoj. Von der Schwäche der Russen profitieren deutsche Auto-, Maschinen- und Anlagenbauer. Volkswagen ist dank eines eigenen Werks in Kaluga südlich von Moskau der Branchenzweite nach dem Lada-Hersteller Awtowas. Deutsche Hersteller haben 2011 allein für sieben Milliarden Euro Stanzmaschinen, Metallpressen und CNC-Fräsen in den Osten geliefert.

Prognose Welt-Automarkt 2012

Aber selbst die Nachfrage nach dem begehrten Label „made in Germany“ sinkt: Seit Jahresanfang verharren die Einfuhren von Maschinen in Russland bei knapp unter zehn Milliarden Euro im Monat – insgesamt, nicht nur aus Deutschland.

Unterm Strich ist die Stimmung der Unternehmen verhalten. Einerseits profitieren deutsche Lieferanten wie Tunnelbauer Herrenknecht aus Baden von staatlichen Großprojekten, die Autobauer von der guten Verbraucherlaune. Aber gerade kleinere russische Unternehmen schrecken vor Investitionen zurück und hamstern ihre Profite. Mehr als 35 Milliarden Euro Kapital sind seit Januar ins Ausland geflossen – das Gros davon sind Exportgewinne. Derweil wandern immer mehr Russen ins Ausland ab, wo sie bessere Perspektiven für sich sehen.

Speisewagen oder Lokomotive

Wozu auch in Russland bleiben? Vielen Unternehmen fällt es auf der Heimaterde schwer, qualifiziertes Personal zu bekommen – von der allgegenwärtigen Korruption und Bürokratie ganz zu schweigen. Textilunternehmerin Olga Malzewa, die unter dem Modelabel Schaluni Kinderjacken für die Härten des russischen Winters nähen lässt, fertigt neuerdings in Vietnam. Für ihre Fabrik in Troitsch bei Moskau fand sie kein Personal, was sie auch auf die Defizite im Bildungssystem zurückführt.

Statt besserer Bildung hat Wladimir Putin im Frühjahr 25 Millionen Jobs für Akademiker versprochen. Wer soll die einstellen, wenn sich kleine Unternehmen nicht entwickeln können, die Wirtschaft kaum wächst? Von Putin, dem Dauer-Regenten von Russland, sind Unternehmer sowieso enttäuscht. Viele hatten gehofft, er würde die Zeit nach der Krise von 2009 für Reformen nutzen, die Wirtschaft liberalisieren, herausführen aus der Rohstoffabhängigkeit. Es war einmal der Traum, dass Russland zur Lokomotive der Weltwirtschaft wird. In Wahrheit ist das Land der Speisewagen, aus dem sich jeder bedient – und der in der Krise aufs Abstellgleis geschoben wird.

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