Abschied vom Gleichgewicht Warum Charles Darwin ein Segen für die Ökonomie ist

Immer mehr Ökonomen sind überzeugt: Ihr Fach braucht grundlegend neue Methoden. Charles Darwin könnte helfen. Der Naturforscher war Fachmann für Wandel und Anpassung - und liefert mit seiner Evolutionstheorie der Wirtschaft frische Ansätze.

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Der geistige Vater der Quelle: picture-alliance / KPA/HIP

KÖLN. So ein Gleichgewicht ist eine schöne Sache. Besonders Radprofis und Hochseil-Artisten wissen es zu schätzen, auch buddhistische Mönche gelten als Experten auf diesem Gebiet. Doch niemand liebt Gleichgewichte so sehr wie Ökonomen. Denn befindet sich ein Markt im Gleichgewicht, sind die Preise gerecht, und der Wohlstand ist hoch. Eine ganze Volkswirtschaft im Gleichgewicht würde Wirtschaftswissenschaftler auf der ganzen Welt zu Tränen rühren und rauschhafte Partys in Universitäten und Forschungsinstituten zur Folge haben. Doch dazu wird es wohl nie kommen.

„Gleichgewichte sind idealisierte Grenzfälle“, sagt Ulrich Witt vom Max-Planck-Institut für Ökonomik in Jena. „Auf den meisten Märkten werden sie nicht erreicht.“ Diese Erkenntnis macht Wirtschaftswissenschaftlern schon lange zu schaffen. Wann immer sie das Fenster aufmachen, sehen sie, dass die Welt ganz anders ist als in den großen ökonomischen Theorien angenommen.

Von den in der Mainstream-Ökonomik beschworenen Gleichgewichten ist da draußen nur wenig zu sehen. Auf Angst und Absturz folgen Euphorie und Aufschwung. Erfolgreiche Unternehmen geraten plötzlich in Schwierigkeiten, weil keiner mehr ihre Produkte kaufen will. Die reale Wirtschaftswelt tut vor allem eines: Sie verändert sich ständig.

Einige Ökonomen holen sich daher Hilfe bei einem Fachmann für Wandel und Anpassung: Charles Darwin. Der zeigte schon vor über 150 Jahren, wie man eine Gleichgewichtstheorie entkräftet. Mit seiner Evolutionstheorie zeigte er: Die Tier- und Pflanzenwelt war keineswegs von Anfang an im göttlich geschaffenen Gleichgewicht. Sie hatte sich entwickelt, und sie veränderte sich jeden Tag. Wenig später stellte der Ökonom Thorstein Veblen die These auf, dass auch die Wirtschaft den darwinistischen Gesetzen von Adaption und Selektion folge, und schuf den Begriff „evolutorische Ökonomik“.

Die Forschungsrichtung hat inzwischen viele Anhänger gefunden, die sich von der Gleichgewichtsannahme der Mainstream-Ökonomik lösen wollen. Einer von ihnen ist Guido Bünstorf, Ökonom an der Universität Kassel. Er beschäftigt sich wie Darwin mit der Entstehung von Arten. Doch Bünstorf forscht nicht über Frösche und Vögel, sondern untersucht, wie Unternehmen entstehen.

Diese Frage wird in den Mainstream-VWL kaum beachtet. Dort gelten Unternehmen als fertige Akteure, deren Handeln untersucht wird. Dabei ist die Frage, wie sie entstehen und wo sie sich ansiedeln, vor allem für Politiker interessant, die viel Geld in Gewerbeparks und Programme zur Existenzgründung stecken.

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