Wer sich mit dem Leben berühmter Ökonomen beschäftigt, stößt oft unweigerlich auf interessante Dinge aus deren Privatleben. David Ricardo, der erste Globalisierungstheoretiker, machte ein Vermögen als Börsenspekulant. John Maynard Keynes war schwul und heiratete trotzdem eine russische Balletttänzerin. Joseph Schumpeter fuhr mit Prostituierten im offenen Wagen durch Wien, wanderte nach Amerika aus und hielt Vorlesungen im Reitkostüm.
Bei Adam Smith (1723–1790), dem Urvater der Nationalökonomie und historischen Helden liberaler Ökonomen, fehlt alles Schillernde und Schrille. Der Philosoph David Hume beschrieb ihn als „wahrhaft verdienstvollen Mann, wenngleich seine sesshafte, zurückgezogene Lebensweise sein Auftreten und Erscheinungsbild als Mann von Welt getrübt hat“. Der Schotte war kränklich und verklemmt, ein in sich versunkener Kauz mit merkwürdig schlängelndem Gang, der Selbstgespräche führte. Einmal soll er sinnierend im Schlafrock die Straße entlanggewandert sein. Die einzige Frau in seinem Leben war seine fromme Mutter, mit der er fast 60 Jahre unter einem Dach lebte.
Das "Alte Testament" der Nationalökonomie
Doch genau dieser Mann ist zu einem der berühmtesten Ökonomen der Geschichte geworden. Sein Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ ist das Alte Testament der Nationalökonomie. Es findet sich bis heute auf den Literaturlisten von VWL-Studenten wieder. In dem fast 1.000 Seiten starken Wälzer analysiert Smith die wohlstandsmehrenden Effekte von Arbeitsteilung und freien Märkten, es gibt umfangreiche Kapitel zur Preis-, Lohn- und Außenhandelstheorie ebenso wie Ausführungen zum Geldwesen, zum Kapitaleinsatz und zur Rolle des Staates.
Literatur von und über Adam Smith
Das 1776 erschienene Werk ist der Klassiker der ökonomischen Literatur und die erste systematische Aufarbeitung und Bündelung ökonomischen Wissens. Dass Smiths Analyse über Wachstum, Preise, Arbeitsteilung und Staatstätigkeit auch mehr als 230 Jahre später noch ihre Leser findet, liegt nicht nur an ihrer dogmengeschichtlichen Relevanz: Das Buch ist anschaulich geschrieben und kommt noch völlig ohne mathematische Formeln aus.
(dtv, 12. Auflage 2009, 855 Seiten, 19,90 Euro)
Mit dem mehrfach überarbeiteten Werk setzt Smith einen Kontrapunkt zu seiner ökonomischen These, dass Eigennutz die Triebfeder des Wohlstands ist. Smith zeichnet in seiner Moralphilosophie ein positives Menschenbild, bei dem sich die Individuen auch von Mitgefühl und Sympathie leiten lassen.
(Meiner Felix Verlag, Neuauflage 2009, 648 Seiten, 28,90 Euro)
Das Buch beschreibt die zentralen Ideen einflussreicher Ökonomen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, darunter neben Smith auch Ricardo, Malthus, Marx und Menger. Anspruchsvoll aufbereitet, trocken geschrieben. Für Leser mit ökonomischen Vorkenntnissen.
(Band 1, Beck, 2008, 359 Seiten, 14,95 Euro)
Der Ökonom Joseph Schumpeter mäkelte zwar mehr als ein Jahrhundert später, Smiths Werk enthalte „keine einzige analytische Idee oder Methode und kein analytisches Prinzip, die im Jahre 1776 völlig neu gewesen wären“. Doch sein großes Verdienst ist es, die Ökonomie zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt zu haben, war sie doch zuvor nur ein wenig beachtetes Anhängsel anderer Fachrichtungen. „Smith war ein großer Sammler und Jäger“, sagt der Smith-Experte Heinz Kurz, Ökonomieprofessor an der Universität Graz. „Er hat das verstreute Wissen seiner Zeit systematisiert und neu kombiniert und damit eine universelle Gesellschaftswissenschaft zu entwickeln versucht.“
Smiths Gedankengebäude
Die Gedanken von Smith prägten Heerscharen von Wirtschaftswissenschaftlern, klassische Ökonomen wie David Ricardo und Jean-Baptiste Say ebenso wie im 20. Jahrhundert die Ordoliberalen um Walter Eucken und Friedrich August von Hayek. Karl Marx bediente sich bei den Arbeitswert- und Entfremdungsthesen des Schotten, der schon früh die Gefahr der „Entseelung“ der Arbeit durch – prinzipiell segensreiche – Spezialisierung erkannte.
Das gesamte Gedankengebäude von Smith ist ein ökonomischer Reflex auf das Zeitalter der Aufklärung. Als Smith Mitte des 18. Jahrhunderts mit seinen ökonomischen Studien beginnt, ist die Welt wirtschaftlich und politisch im Wandel. Die einsetzende industrielle Revolution macht die zuvor agrardominierte Wirtschaft immer komplexer; drängende Preis-, Lohn- und Verteilungsfragen und neue Phänomene wie Arbeitsteilung, Massenproduktion und ein wachsender Finanzsektor lassen sich mit dem damals vorhandenen wissenschaftlichen Instrumentarium nur noch unzureichend erklären.
Gleichzeitig emanzipiert sich ein immer selbstbewussteres und nach individueller Freiheit gierendes Bürgertum von König, Adel und Klerus. Dem absolutistischen Staat setzt Smith das selbstbestimmte (und eigennützige) Individuum gegenüber, dem Protektionismus den Freihandel – und der staatlichen Regulierung den freien (aber vom Staat abgesicherten) Wettbewerb.
Gleichgewicht auf den Märkten
Smith bricht mit der damals herrschenden dirigistischen Wirtschaftsform des Merkantilismus, bei der die Staaten durch hohe Zollmauern und Exportsubventionen versuchten, Handelsbilanzüberschüsse anzuhäufen. Sein Credo: Bei vollständiger Konkurrenz und einem freien Spiel der Kräfte entsteht über den Preismechanismus, wie von „unsichtbarer Hand“ gelenkt, nicht nur maximaler Wohlstand in einem Land, sondern auch zwingend ein Gleichgewicht auf den Märkten. Die Wirtschaft betrachtet Smith mithin als selbstregulierenden Mechanismus.
Unsichtbare Hand
An dieser zentralen These, die Marktversagen und stabile Ungleichgewichte auf lange Sicht ausschließt, sofern die Rahmenbedingungen stimmen, haben sich Generationen von Ökonomen abgearbeitet. „Die unsichtbare Hand ist unsichtbar, weil es sie nicht gibt“, mäkelte der US-Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stieglitz. Kritiker monieren zu Recht, dass Smith das Phänomen der Arbeitslosigkeit komplett ignorierte. Die nämlich kann es in der Smith’schen Gedankenwelt nicht dauerhaft geben – weil bei sinkender Arbeitskräftenachfrage über sinkende Löhne am Ende wieder Vollbeschäftigung erreicht wird.
Bis heute aktuelle Analysen
Gleichwohl sind viele Analysen des Schotten auch heute noch von großer Relevanz. Zur Rolle des Staates etwa schrieb er einen Satz, der auch im Jahr 2011 in jedem finanzpolitischen Leitartikel Platz finden könnte: „Keine Kunst lernt eine Regierung schneller als die, Geld aus den Taschen der Leute zu ziehen.“ Auch wenn der Ökonom Subventionen und Interventionismus ablehnte, so war er weder der seelenlose Marktradikale noch der rigorose Staatsverächter, zu dem ihn viele Interpreten posthum machten.
„Der Glaube, dass er den Staat als Ordnungsmacht und gestaltende Instanz ablehnte, ist völliger Unfug“, sagt der Grazer Smith-Experte Kurz; Smith habe in seinen Schriften gleich 26 Gründe aufgeführt, wann und wo der Staat tätig werden müsse. Kurz: „Zwar soll sich der Staat abgesehen vom Setzen einer Wirtschaftsordnung weitgehend aus dem Wirtschaftsleben heraushalten – sehr wohl aber zum Beispiel für innere und äußere Sicherheit, eine funktionierende Justiz, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur und eine schulische Bildung der Menschen sorgen.“
Eigennutz als Triebfeder
Smith argumentierte stets individualistisch. Die Triebfeder des gesellschaftlichen Wohlstands ist für ihn der Eigennutz – auch das macht ihn bei Gutmenschen bis heute verdächtig. „Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten“, schreibt er. „Jeder glaubt nur sein eigenes Interesse im Auge zu haben, tatsächlich aber erfährt so auch das Gesamtwohl der Volkswirtschaft die beste Förderung.“ Was VWL-Lehrbücher heute als optimale Ressourcenallokation bezeichnen, brachte Smith vor über 230 Jahren auf diesen einfachen Nenner: Da „der Zweck jeder Kapitalanlage die Gewinnerzielung ist, so wenden sich die Kapitalien den rentabelsten Anlagen zu, das heißt denjenigen, in denen die höchsten Gewinne erzielt werden. Indirekt wird aber auf diese Weise auch die Produktivität der Volkswirtschaft am besten gefördert.“
Die Idee der Arbeitsteilung
Smith erkannte dabei als Erster die ungeheuren Produktivitätsgewinne durch Arbeitsteilung. „Die Arbeitsteilung dürfte die produktiven Kräfte der Arbeit mehr als alles andere fördern und verbessern“, schreibt er. In seinem berühmt gewordenen Stecknadelbeispiel weist er nach, dass für die Herstellung einer einzigen Nadel bis zu 18 Arbeitsgänge notwendig sind. Wenn sich daher jeder Arbeiter in der Produktion auf einen Arbeitsschritt spezialisiere, steige der Output um ein Vielfaches. „Der eine Arbeiter zieht den Draht, der andere streckt ihn, ein dritter schneidet ihn, ein vierter spitzt ihn zu, ein fünfter schleift das obere Ende, damit der Kopf aufgesetzt werden kann.“
Sparsamkeit fördert Wachstum
Smith war aber durchaus bewusst, was die Zersplitterung des Arbeitsprozesses bedeuten kann, und warnte, dass der Arbeiter „verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen, und so stumpfsinnig und einfältig wird, wie es ein menschliches Wesen nur eben werden kann“.
Makroökonomisch legte Smith den Grundstein für eine Debatte, die bis heute nicht abgeschlossen ist: Nützt oder schadet eine hohe Ersparnis dem Wachstum? Für Smith war die Antwort eindeutig: Sparen ist eine Tugend! Denn nur das Sparen ermöglicht für Smith volkswirtschaftliche Kapitalakkumulation und Investitionen; damit sei die Ersparnis der Wirtschaftssubjekte eine grundlegende Bedingung für Wachstum und Beschäftigung. John Maynard Keynes, der Mitte des 20. Jahrhunderts die ökonomische Gegenbewegung zur (Neo-)Klassik einläutete, sah das völlig anders: Bei ihm führt eine steigende Ersparnis zu sinkendem Konsum; als Folge fahren die Unternehmen ihre Produktion zurück. Das Wachstum sinkt, Jobs gehen verloren.
Früher Aufklärer
Adam Smith wird 1723 in Kirkcaldy geboren, einem 1.500-Seelen-Nest an der schottischen Ostküste. Sein Vater, ein Zollbeamter, stirbt kurz vor Adams Geburt. Schon als Schüler fällt Smith auf, der Junge hat eine feine Beobachtungsgabe, ein phänomenales Gedächtnis und eine Vorliebe für Bücher. Schon mit 14 Jahren beginnt er ein Studium an der Universität Glasgow. Dort prägt ihn vor allem der Moralphilosoph Francis Hutcheson, ein früher Aufklärer und brillanter Redner, der als erster Wissenschaftler in Glasgow anstatt auf Latein auf Englisch doziert (was Smith ihm später nachmachen wird).
Dank guter Leistungen bekommt der junge Smith 1740 ein Stipendium für ein weiterführendes Studium. Er geht nach Oxford, studiert dort sechs Jahre Philosophie und beschäftigt sich mit griechischer Literatur. Wohl fühlt er sich in Oxford mit den dortigen strengen Konventionen nicht; einmal erhält er einen strengen Verweis, als er ein zu „fortschrittliches“ Buch liest. 1746 kehrt Smith in sein Heimatdorf zurück, und versucht ohne Erfolg, als Privatlehrer Fuß zu fassen.
1748 erhält er die Möglichkeit, in Edinburgh verschiedene Vorlesungen zu halten. Obwohl die Vorträge nicht zum offiziellen Lehrprogramm gehören, kommen die Studenten bald in Scharen, um seinen Ausführungen über englische Literatur, Rhetorik, Philosophie und ökonomische Fragen zu lauschen. In dieser Zeit entwickelt sich auch eine Freundschaft mit dem Philosophen David Hume, der für Smith auch zur wichtigsten wissenschaftlichen Bezugsperson wird.
Smith-Paradoxon
1750 erhält der populär gewordene Smith eine Professur für Logik an der Universität Glasgow, ein Jahr später wechselt er auf den besser bezahlten Lehrstuhl für Moralphilosophie. Seine Vorlesungen zu Ethik und politischer Ökonomie kommen an. Schnell verbreitet sich sein Ruf als scharfsinniger Intellektueller; sogar aus Russland sollen Studenten angereist sein, um ihn zu hören.
1759 veröffentlicht er sein erstes großes Werk: Die „Theorie der ethischen Gefühle“, die er im Laufe der Jahre mehrfach ergänzt und erweitert. Smith sieht die menschliche Empathie als Korrektiv zu Eigennutz und Egoismus, also jenen Eigenschaften, die in seinen späteren ökonomischen Schriften eine so zentrale Rolle einnehmen. Er schreibt: „Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.“
Der "unparteiische Beobachter"
Für Smith ist auch ein eigennütziges Wesen wie der Mensch zur moralischen Urteilsbildung fähig. Er entwirft das Konstrukt eines „unparteiischen Beobachters“, dessen Rolle die Menschen intuitiv einnehmen, um eigene oder fremde Handlungen ethisch bewerten zu können.
Nicht alle Ökonomen hat das freilich überzeugt. Mit Blick auf das divergierende moralphilosophische und ökonomische Welt- und Menschenbild des Schotten ist noch heute in der Literatur vom „Smith-Paradoxon“ die Rede.
1764 gibt Adam Smith seinen Professorenjob überraschend auf und wird Tutor des jungen Herzogs von Buccleugh, den er alsbald auf eine fast dreijährige Reise durch Frankreich und die Schweiz begleitet. Die Bezahlung ist für damalige Verhältnisse enorm, und da es obendrein eine lebenslange Rente von 300 Pfund Sterling jährlich gibt, hat Smith fortan finanziell ausgesorgt.
Inspirationen
In Frankreich lernt er den Philosophen Voltaire kennen und François Quesnay, den führenden Kopf der sogenannten Physiokraten. Quesnay ist kein Geisteswissenschaftler, sondern Chirurg und Leibarzt von Ludwig XV. Das hält ihn indes nicht von ökonomischen Studien ab. Quesnay, inspiriert von der menschlichen Blutzirkulation, entwickelt mit seinem „Tableau Économique“ das erste Modell eines makroökonomischen Wirtschaftskreislaufs und formuliert das ökonomische Laissez-faire-Prinzip, wonach die Wirtschaft allein dem freien Spiel der Kräfte unterliegen soll.
Unpassender Nebenjob
Beide Ideen faszinieren Smith. 1767 kehrt er in sein Heimatdorf zurück und verbringt volle neun Jahre mit den Arbeiten an seinem Hauptwerk, dem „Wohlstand der Nationen“. Das Buch erscheint am 9. März 1776 und wird ein großer Erfolg, die erste Auflage ist nach sechs Monaten vergriffen. Smith bezieht in Edinburgh ein Haus mit Mutter, Cousine und einer großen Bibliothek mit mehr als 3.000 Bänden. Er beginnt mit einer Überarbeitung seiner „Theorie der ethischen Gefühle“. Und er nimmt einen neuen Job an, der so gar nicht zu seinem Freihandelspostulat passen will. Smith wird im Jahr 1778 schottischer Zollkommissar – und soll beim Kampf gegen Schmuggler in den Folgejahren durchaus erfolgreich die Staatseinnahmen gemehrt haben.
Doch die Arbeit macht ihm zunehmend zu schaffen; Smith wird schwer krank. Kurz vor seinem Tod am 17. Juli 1790 lässt er alle unvollendeten Werke, vor allem rechtsphilosophische und literaturgeschichtliche Schriften, von zwei Freuden verbrennen – insgesamt verschwinden an die 16 Bände in den Flammen.
Stets präsent
In Vergessenheit geriet er nach seinem Tod nie. Vor allem im angelsächsischen Raum ist Smith heute präsenter denn je. Die National Association for Business Economics in Washington vergibt alljährlich einen Adam-Smith-Preis (jüngster Preisträger: der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff). Das Adam Smith Institute, ein libertärer Thinktank in London, ließ 2008 gar ein bronzenes Denkmal in der Innenstadt von Edinburgh errichten – passenderweise ohne jede staatliche Subvention. Den Engländern erscheint der Ökonom mittlerweile fast jeden Tag – beim Einkaufen. Seit 2007 ziert sein Konterfei die 20-Pfund-Noten der Bank of England.